Der Wind strich kalt über die Schwarzwaldhänge, als hätte er sich vorgenommen, jedes Blatt, jeden Ast, jedes Geheimnis aus der Erde zu reißen. Seit Generationen erzählten die Menschen in den verstreuten Dörfern rund um den Schluchtwald, dass diese Berge sich Dinge merkten, die kein Mensch aussprechen wollte.

Und manchmal, sagten die Alten, gaben sie das Vergessene wieder frei. Nicht aus Gnade, sondern aus Gerechtigkeit. Ich bin Klara Böhm, Rundfunkjournalistin, Mitte 50 und ich habe vor dreig Jahren eine Geschichte begonnen, die nie zu Ende erzählt wurde. Eine Geschichte über einen Vater, der glaubte, seine Töchter gehörten ihm wie erlegtes Wild. Eine Geschichte über ein Dorf, das zu lange schwieg und über einen Jagdbericht, der mich in einer verlassenen Hütte im Schwarzwald fand, in einem Raum, der roch nach feuchtem Holz, Ruß.
und ungesagten Dingen. Die Hütte lag oberhalb eines alten Forstweges, ungefähr eine Stunde vom nächsten Ort entfernt, in einer Senke, in der das Tageslicht selbst im Sommer kaum bis zum Boden reichte. Der ehemalige Besitzer hieß Benno Habrcht, bekannt im ganzen Landkreis als Wildhüter, Fallensteller und Eigenbrötler.
Drei Töchter hatte er und alle drei verschwanden im Jahr, in dem Benno Schwieg. Plötzlich vollständig, ohne Spur. Offiziell hieß es damals, er sei im Wald ums Leben gekommen. Eine Leiche fand man nie und die Mädchen? Man sagte, die Familie sei fortgezogen, weiter südlich vielleicht, näher an die reinen Ebene. Niemand fragte nach Beweisen, niemand wollte sie hören.
Als ich die Hütte betrat, das Holz der Tür unter meiner Hand splitternd, hörte ich noch das Knacken des Ofens aus einer Zeit, in der jemand hier lebendig gewesen war. Doch es gab keinen Geruch von Leben, nur Staub, Moder, alte Spuren. Neben dem zerrosteten Holzofen fand ich ein dünnes Brett, dessen Farbe zu sauber wirkte.
Jemand hatte es ersetzt, jahre nachdem der Rest der Hütte dem Verfall überlassen worden war. Darunter lag ein Blechkasten mit Öl und Ruß verschmiert. Ich öffnete ihn mit einem Schraubenzieher und beim ersten Blick in den Kasten zog es mir den Atem aus der Brust. Polaroids, 20, vielleicht drei Mädchen immer dieselben, in selbstgenähten Kleidern, ausgeblichen, still, kein Lächeln, kein Licht in den Augen und unter den Fotos ein ledergebundener Jagdbericht.
Seine ersten Seiten wirkten harmlos, wildarten, Gewichte, Fundstellen, bis ich die Spalte auf der rechten Seite sah. Feins säuberlich beschriftet, Nächte gehalten. Anfangs ein zwei Nächte, dann immer mehr. 7, 12, 18. Und in der Spalte der Beute standen plötzlich keine Tierarten mehr, sondern Namen. Helena Ruth, Maria.
Ich erinnere mich an die Kälte, die mir den Rücken hinunterlief, obwohl der Frühling draußen schon die ersten Knospen öffnete. Die letzte Zeile des Berichtes war kaum lesbar, als hätte Benno sie geschrieben, während die Tinte versiegte. Maria im Winter genommen, Hütte gesäubert, kein Datum, keine Unterschrift, nur diese fünf Worte.
Ich hätte damals sofort zur Polizei gehen sollen, aber zuerst musste ich verstehen, was ich gefunden hatte. Ich brachte den Kasten zu Markus Wend, einem jungen Beamten beim Landratsamt, der die Hütte offiziell im Auftrag der Gemeinde überprüfen sollte. Er hatte dieselbe Reaktion wie ich.
Ein Schauder, ein Atemzug, der zu lang dauerte, ein Blick, der nicht wusste, wohin er fallen sollte. Er sagte: “Kara, das wird alles verändern.” Und ich wusste, das war erst der Anfang. Der Schwarzwald hatte begonnen zu sprechen und ich würde zuhören müssen, egal wohin es führte. Markus hatte den Metallkasten kaum zugemacht, da sah ich, wie sich seine Finger verkrampften.
Er war sech Jahre im Dienst gewesen, jung, aber nicht naiv. Und doch schien ihn der Fund mehr zu erschüttern als jede Leiche, die er je gesehen hatte. Wir fahren nicht zurück ins Revier”, sagte er mit gepresster Stimme. “Nicht mit dem, nicht bevor wir wissen, wem wir das zeigen können, ohne dass es verschwindet.” Dieser Satz brannte sich mir ein.
In manchen Landkreisen, besonders in solchen, die aus verstreuten Dörfern, alten Familien und langen Erinnerungen bestehen, verschwinden Beweise und manchmal verschwinden Zeugen gleich mit. Wir fuhren nach Freiburg zu den Archivräumen des alten Rundfunkhauses, wo ich manchmal recherchierte. Der Weg führte über schmale, vereiste Straßen vorbei an Fichten, die wie stumme Wachposten standen.
Markus sprach kaum. Einmal murmelte er. Ich war ein Kind, als die Habrechtgeschichte passierte. Mein Vater sagte, man sle daushalten. Der Wald regelt sowas, hat er gesagt. Der Wald regelt sowas. Ein Satz, der so vertraut klang wie eine Drohung aus der Kindheit. Im Archiv wartete bereits jemand, den ich um Hilfe gebeten hatte.
Gundula Kern, ehemalige Gerichtsreporterin, Anfang 60, eine Frau, deren Blick Risse in Mauern finden konnte. Ich legte die Polars und den Jagdbericht vor sie auf den Tisch. Sie betrachtete die Fotos lange, ohne ein Wort zu sagen. Dann schlug sie den Bericht auf, strich mit dem Finger die Spalte, Nächte gehalten entlang und atmete langsam aus.
“Er hat Buch geführt”, sagte sie, “wie ein Jäger, aber nicht über Tiere.” Markus nickte. Es sind die drei Habrchtmädchen Helena Rut, Maria. offiziell weggezogen. Natürlich. Gundula sah uns beide an, als erwartete sie eine Antwort, die wir nicht geben konnten. “Hat damals jemand nach ihnen gesucht?”, fragte sie schließlich.
Markus schüttelte den Kopf. Der damalige Revierfürster war ein Cousin zweiten Grades von Benno. Die Habrchts waren hier oben quasi eine Dynastie. Jemand meldet drei Mädchen nicht vermisst. Das galt als Familienangelegenheit. Ich spürte Wut wie ein Feuer hinter meinen Rippen. “Wir müssen rekonstruieren, was damals wirklich passiert ist”, sagte ich, und zwar nicht anhand der Märchen, die man sich hier oben erzählt.
Am nächsten Morgen begann ich mit der mühsamen Arbeit, die Mädchen aus den Akten der Zeit zurückzuholen. Die Schulunterlagen fand ich in einem feuchten Kellerraum der alten Grundschule von Waldstädten, verschachtelt zwischen vergilbten Listen und kaputten Ordnern. Helena war bis zur vierten Klasse geführt. Rud bis zur dritten. Maria tauchte nie in den Registern auf. Jedes Mal dieselbe Notiz.
Hausunterricht, Elternwunsch. Keine Nachprüfung, kein Besuch vom Jugendamt, keine Rückfrage, nur Schweigen. Als ich später am Tag vor der Habrhütte stand, umgeben von karlen Baumkronen und dem Geruch von Erde, der schon nach Tau klang, versuchte ich mir vorzustellen, wie drei Kinder hier ihre Jahre verbracht hatten.
Kein anderer Hof in Hörweite, keine Stimmen außer seiner, kein entrinnen. Hinter der Hütte, etwa 50 Schritte in den Wald hinein, fand ich den alten Ziehbrunnen, der im Grundbuch eingetragen war. Der Betondeckel war rissig, als hätte der Winter selbst daran genagt. Ich kniete mich hin, legte eine Hand auf den kalten Rand und spürte ein Zittern in den Fingern.
Ein Gefühl, als lege dort unten etwas, das wissen wollte, dass es nicht vergessen war. Am Nachmittag klopfte ich an eine Tür, die ich wußte, daß ich klopfen mußte. Ewald Müller, Jahre alt, lebte seit fast fünf Jahrzehnten im Waldwinkel, nur zweieinhalb Kilometer von der Habrhütte entfernt.
Er öffnete, sah mich an und blinzelte, als wäre ich ein unangenehmer Gedanke, der plötzlich Gestalt angenommen hatte. “Ich weiß, wer Sie sind”, sagte er. Sie machen diese Sendung, wo man alte Sachen wieder aufrollt. Alte Sachen, die nie geklärt wurden, antwortete ich, und die nicht ruhen, nur weil man nicht hinschaut. Er ließ mich rein, aber nicht aus Höflichkeit.
Eher, weil er wusste, dass Schweigen diesmal nicht funktionieren würde. Die Küche roch nach Kaffee und altem Holz. Auf dem Tisch lagen Schrauben, Schachteln, ein halbfertiges Messer mit Hirschhorngriff. Ewald setzte sich, nahm die Mütze nicht ab und starrte auf seine Hände. “Ich habe nichts gewußt”, begann er.
“Ein Satz, den ich zu oft gehört habe, um ihm zu trauen.” “Ich brauche keine Schuldigen”, sagte ich leise. “Ich brauche Wahrheit.” Er presste die Lippen zusammen. Dann erzählte er, wie Benno manchmal nachts mit der Lampe durchs Unterholz wanderte, wie man Schreie gehört hatte, helle, kurze, erstickt wirkende und wie die Leute sagten: “Das sind die Wildschweine.
” Wie Rut einmal mit ihm war, um Werkzeuge zu tragen, dünn wie eine Kerze, die Flamme schon fast erloschen. Ihre Augen, sagte Ewald, haben ausgesehen, als hätten sie aufgehört zu hoffen. Dann erzählte er vom Winter 88 oder 89.
Benno brauchte Hilfe, etwas schweres zu transportieren, sagte aber nicht, was es war. In Tücher gewickelt, mit Stricken gebunden. Ewald dachte an Wildbret. Sie trugen es zum Brunnen, senkten es hinab. Benno zahlte Bar. Ich habe es versucht zu vergessen”, flüsterte er. 30ßig Jahre lang. Ich verließ das Haus und der Abend legte sich über den Wald wie eine Hand, die einem den Atem nimmt.
Die Geschichte wurde nicht klarer, sie wurde dunkler und ich wusste, dass wir tief im Schwarzwald erst an der Oberfläche kratzten. Am nächsten Morgen saß ich zwischen Aktenstapeln, die mehr nach verlorenen Leben rochen als nach Papier. Ich versuchte eine Chronologie zu rekonstruieren. Helenas letzte Schulteilname im Jahr 8. Roots verschwinden ein Jahr später.
Marias völlige Unsichtbarkeit. Je mehr ich zusammen trug, desto klarer wurde das Muster eines Hauses, das jahrelang niemand sehen wollte. Ich fuhr zurück in die Stadt, legte alles auf meinem Küchentisch aus und strich die Daten an, die sich wie Löcher im Gewebe anfühlten.Dann begann ich Kirchenbücher zu durchforsten. In einem Archiv in St. Mergen fand ich den Eintrag über die Mutter Anna Hab. Gestorben an einer Lungenentzündung, kaum Anfang 30. Die Beerdigung fand an einem verschneiten Januartag statt. Kein Hinweis auf Kinder, keine Erwähnung einer Gemeinde, die Anteil genommen hätte. Ab hier begann die Familie zu verschwinden.
Ich arbeitete bis spät in die Nacht, das leise Brummen der Heizung, das einzige Geräusch um mich herum. Immer wieder zog es mich zurück zu dem Satz aus dem Jagdbericht: “Maria, im Winter genommen, Hütte gesäubert.” Ich fragte mich, wer diese Worte außer ihm je gesehen hatte. Am nächsten Tag traf ich mich mit Gundula im kleinen Lesesaal des städtischen Archivs.
Sie hatte in den Zeitungsbeständen aus den 90er Jahren gewühlt. “Es gab ein paar Meldungen über Benus Verschwinden”, sagte sie und schob mir die Kopien hin. Er sei vermutlich im Wald verunglückt. Keine Suchaktion, keine gründliche Untersuchung. Ich sah die Schlagzeile eines Platz aus 90. erfahrener Wildhüter, nicht zurückgekehrt, Unfall vermutet und darunter ein kurzer Absatz, der aus drei Sätzen bestand.
Kein Wort von den Töchtern, kein Hinweis auf Unregelmäßigkeiten, als hätte ein Mann, der seit Jahren drei Mädchen wie Schatten mit sich führte, einfach aufgehört zu existieren, ohne dass jemand darüber nachdachte. Wir brauchten mehr als alte Zeitungsfetzen. Wir brauchten Stimmen. Also klapperte ich erneut die wenigen Häuser rund um den Schluchtwald ab.
Manche Bewohner behaupteten, sie könnten sich nicht erinnern. Andere erinnerten sich zu gut, aber sagten es nicht. Bis ich bei Judith Fechner stand, die drei Jahrzehntelang das kleine Postamt in Waldstädten betreut hatte. Sie blickte auf die Kopie eines der Polars und ich sah, wie sich ihre Mundwinkel unmerklich anspannten.
“Ich habe immer gewusst, dass da was nicht stimmt”, sagte sie. Benno hat regelmäßig Pakete abgeholt. Bestellung, Mädchenkleider, erst klein, dann größer, aber die Kinder selbst nie gesehen. Er sagte, sie seien krank, immer krank. Ich fragte, ob jemand nachgefragt habe. Sie schnaubte leise. Hier oben fragt man nicht.
Jeder hat seine Gründe und die Gründe gehen keinen etwas an. Ich spürte, wie mir die alte Wut erneut in den Hals stieg, die Wut auf die Stille, auf die Gewohnheit, sich Dinge schön zu reden, weil Wahrheit gefährlicher ist als Schweigen. Als ich wieder im Auto saß, klingelte mein Telefon. Markus seine Stimme vibrierte. Kara, ich glaube, wir haben etwas.
Eine Renovierungsfirma war in einem alten Bauernhaus 5 km von der Habrhütte. Sie haben was in der Wand gefunden. Ich war in 20 Minuten dort. Das Haus war halb eingerissen, die Holzbalken bloß gelegt. Der Geruch von Kalk und Staub lag schwer in der Luft. Markus führte mich in den oberen Stock in ein kleines Zimmer, dessen Putz großflächig heruntergeschlagen war.
Auf einer Fensterbank lag eine Kassette eingewickelt in eine Plastiktüte wie zum Schutz. Auf dem Etikett stand mit sauberer mädchenhafter Schrift Helena Bericht. Eine Kassette aus dem Frühjahr 1990, eine Stimme aus der Nacht vor ihrem Verschwinden. Wir setzten uns in mein Auto, weil es der ruhigste Ort war. Ich schob die Kassette in meinen alten Rekorder und ein Zittern lief mir den Rücken hinunter, als das Band anlief.
Rauschen, knacken, dann eine junge vorsichtige Stimme. Mein Name ist Helena Harbrecht. Ich bin 17 Jahre alt. Heute ist der 12. April 1990, wenn du das hörst. Ihre Stimme brach kurz ab. Dann sprach sie weiter, leise, abgewogen, jedes Wort wie ein Tropfen, der in kaltes Wasser fällt. Sie erzählte vom Haus, vom Wald, von Nächten, in denen ihr Vater sagte, es gäbe Regeln, die nur Familien kennen dürften, von Türen, die er verriegelte, von Aufgaben, die er ihnen gab. Sie erzählte, wie Ruth einmal versucht hatte zu fliehen, wie Benno sie
einholte, wie danach etwas in ihr starb und sie erzählte von Maria, der Jüngsten, die nie wusste, dass man anders leben konnte. Am Ende sagte Helena, dass sie weglaufen wolle, dass sie schon einen Plan habe, dass sie den Bach nach Süden folgen werde, weit genug, bis sie eine Straße erreiche.
Sie sagte auch, daß sie ihre Schwestern nicht mitnehmen könne. Sie hatten zu viel Angst und dann kam ein Geräusch, eine Tür, Schritte, eine tiefe Männerstimme. Was machst du da? Ein Klirren. Dann brach das Band abrupt ab. Ich saß da, die Finger verkrampft um den Recorder und spürte, wie die Welt sich in mir verengte.
Markus sah mich an, sein Blick sich. Sie muß es geschafft haben, flüsterte er. Die Kassette wäre sonst nie hier gelandet. Aber ich fühlte nur die Lehrstelle der beiden anderen Mädchen. Ruth, Maria und die Frage, ob Helena wirklich entkommen war oder ob nur ihre Stimme übrig geblieben war, eingefangen hinter einer Holzwand, die erst jetzt nach Jahrzehnten nachgab.
Helena hatte gesagt, wenn du das hörst, heißt es, ich bin rausgekommen. Oder jemand anderes hat es gefunden. Die Berge hatten ihr Geheimnis gehalten. Doch nun begann sie zu sprechen. Ich wusste, dass die Kassette nur der Anfang war. Sie war ein Funke in einem längst ausgekühlten Fall und Funken haben die Eigenschaft wieder Glut in etwas zu bringen, dass man für Tod hielt.
Drei Tage lang arbeitete ich ununterbrochen, verglich Akten, Telefonnummern, alte Protokolle, suchte nach Spuren, die man damals nicht verfolgt hatte. Helena war im Frühjahr 1990 verschwunden. Irgendwann musste sie irgendwo aufgegriffen worden sein. Verletzt, hungrig, ohne Papiere. Mädchen tauchen nicht einfach unsichtbar auf einer Landkarte auf.
Ich begann in den Krankenhäusern zu suchen. Zuerst im Schwarzwaldkreis, dann in den umliegenden Regionen. Keine Treffer. Also dehnte ich den Radius aus. Badenbaden, Karlsruhe. Dann weiter über die Landesgrenzen hinaus. Pfalz, Hessen, sogar Bayern. Überall dieselbe Antwort. Kein Eintrag, keine unbekannte junge Frau zur entsprechenden Zeit.
Schließlich wandte ich mich an Einrichtungen, die damals Schutzräume für Mädchen und Frauen betrieben hatten. Notunterkünfte, kirchliche Häuser, kleine Initiativen, von denen es viele nicht mehr gab. Am fünften Tag fand ich etwas, ein Hinweis aus einem Archiv in Südhessen, genauer aus einem ehemaligen Frauenhaus in Darmstadt.
Eine dünne Aktennotiz vom 19. April 1990. Unbekannte Jugendliche, etwa siebzehn Jahre alt, Verletzungen durch Kälte und Unterernährung, schweigsam, keine Angaben zur Herkunft, kein Name, nur ein Fingerabdruck, schlecht dokumentiert. Doch das Datum war zu nah an Helenas Aufnahmedatum auf der Kassette, um Zufall zu sein. Ich rief die damalige Leiterin ausfindig.
Therese Refeld, inzwischen pensioniert, lebte in einem kleinen Reihenhaus. am Stadtrand von Darmstadt. Als ich sie besuchte, öffnete sie mir mit vorsichtigen Augen wie jemand, der sein Leben lang auf Gewalterfahrungen anderer geachtet hat und es nicht gewohnt ist, dass jemand ihret wegen kommt. Ich zeigte ihr eine Kopie von Helenas Foto.
Sie starrte lange darauf, bevor sie den Kopf leicht neigte. “Das könnte sie sein”, sagte sie. Sie war so still, sie sprach kaum, aber sie las ununterbrochen, immer mit dem Rücken zur Wand. Ich fragte nach Details. Therese erzählte, die Jugendliche habe einen falschen Namen angegeben. Sarah Meinhard. Doch niemand habe geglaubt, dass er echt war.
Die Wunde am Handgelenk, der dünne Körperbau, die Vermeidung von Blickkontakt, alles deutete auf extreme Isolation hin. “Sie blieb sechs Wochen”, sagte Therese. Dann verschwand sie eines Morgens, hinterließ nur eine Decke und einen Zettel. “Danke, ich muss weiter.” Wir hatten sie nicht einmal registrieren dürfen, weil sie Minderjährige ohne Papiere war.
Wir durften sie nicht festhalten. Ich machte eine Kopie der alten Gruppenfotos, auf denen eine schmale Jugendliche am Rand stand, die Arme verschränkt, der Blick wachsam, aber nicht mehr ganz aus Angst geboren. Mit diesem Bild ging ich zur Polizei in Stuttgart, einem Beamten, der mir noch einen Gefallen schuldete. Er jagte das Foto durch ein Abgleichprogramm ohne Garantie.
Die Software spuckte nach drei Tagen einen Treffer aus. Eine Frau namens Helena Braun, wohnhaft in Köln, Bibliotheksmitarbeiterin, 48 Jahre alt. Ich starrte auf das Ergebnis. Helena hatte überlebt. Nicht nur als Stimme auf einem Band, sondern als Mensch mit einem neuen Namen, einem neuen Leben, drei Jahrzehntelang unerkannt. Ich musste sie kontaktieren, doch nicht durch einen Anruf oder eine plötzliche Begegnung.
Frauen, die so etwas überlebt haben, haben ein verletzbares Inneres, dass man nicht überfällt. Ich schrieb einen Brief sachlich, respektvoll, einfühlsam. Ich erklärte, wer ich war, was wir gefunden hatten, dass ihre Schwestern vielleicht nie eine Chance hatten, aber dass ihre Geschichte jetzt ans Licht kam.
Ich wartete zwei Wochen, dann rief sie an. Ihre Stimme war tiefer als auf dem Band, gefasßter, aber ich erkannte sie sofort. “Ich weiß nicht, ob ich bereit bin zu reden”, sagte sie, “aber ich weiß, dass Schweigen uns damals das Leben genommen hat. Vielleicht ist es Zeit, dass ich etwas zurückhole. ” Wir verabredeten uns in einem kleinen Café in Köln, einem unauffälligen Ort mit roten Sitzpolstern und gedämpftem Licht. Helena kam mit einem Schal um den Hals, den Blick zuerst auf die Schuhe gerichtet. dann kurz zu mir. Sie war kleiner, als ich erwartet hatte, zierlich, aber fest in sich ruhend. Wir setzten uns in eine Ecke weit weg von anderen Gästen. “Ich habe die Kassette mit 16 aufgenommen”, sagte sie.
Ich dachte, wenn ich sterbe, soll wenigstens jemand wissen, dass es wahr ist. Die Welt draußen war mir so fremd ein anderer Planet, aber der Wald, der Wald kannte mich. Sie lächelte dabei nicht. Es war ein Satz gefüllt mit etwas, das man nicht heilt, sondern nur trägt. Dann erzählte sie, wie sie in jener Nacht geflohen war, wie sie barfuß durch den Bach lief, um ihre Spur zu verwischen, wie sie irgendwann das Gefühl hatte, dass die Bäume sie weniger beobachteten, als beschützten, wie sie den Schuss hörte, der im Wald verhalte, einzelner kalter Schuss und wußte, dass eine ihrer
Schwestern dafür bezahlen musste, daß sie rannte. Als sie aufhörte zu sprechen, war ihre Tasse längst leer. Sie sah mich an und in ihrem Blick lag eine Mischung aus Entschlossenheit und Furcht. “Ich rede”, sagte sie, “Nicht, weil ich muss, sondern weil die beiden es verdient haben, weil niemand mehr sagen soll, er habe nichts gewusst.
” Ich nickte und wusste, das war der Moment, in dem Schweigen des Schwarzwalds endgültig gebrochen war. Als ich Köln verließ, um wieder in den Schwarzwald zurückzufahren, wußte ich, daß Helenas Aussage der Kern der Wahrheit war, aber nicht ihr Ende. Es gab zwei Mädchen, deren Stimmen nie aufgenommen worden waren, deren Schritte keinen Weg aus dem Wald geführt hatte. Ruth und Maria.
Und wenn die Berge wirklich das behielten, was man ihnen übergab, dann lag ihre Geschichte noch immer irgendwo unter Moos, Erde und Wurzeln. Ich nahm mir vor, jeden Schritt, den Hillen mir beschrieben hatte, im Gelände nachzuvollziehen. Doch bevor ich aufbrechen konnte, rief mich Markus an. Seine Stimme war rau, angestrengt. Kara, wir haben hier etwas.
Ein Jäger ist heute morgen fast im Boden verschwunden. Ich hörte im Hintergrund Stimmen, hektische Bewegungen, metallisches Klirren. Ein Erdfall direkt unterhalb der alten Habrichtparzelle. Ich fuhr sofort los. Als ich am Fundort eintraf, roch die Luft nach nassem Stein und frischer Erde. Der Wald war noch kahl, die Äste grau wie alte Knochen.
Ein Absperrband wehte zwischen zwei Fichten. Markus stand daneben, die Hände in den Taschen vergraben, als müsste er sie vor dem Zittern schützen. “Komm”, sagte er leise. Der Erdfall war größer, als ich erwartet hatte. Ein Krater, vielleicht vier Meter tief, an den Rändern scharf abgebrochen. Unten stand Wasser, trüb und kalt, und darin, halb im Schlick versunken, lag etwas, das im ersten Moment wie ein verknoteter Stoffhaufen aussah.
Doch das Leuchten des nassen Gewebes war zu vertraut. Alter, jagt was. Dieselbe grobe Faser, die ich im Metallkasten gefunden hatte. Die Forensiker arbeiteten vorsichtig, Zentimeter um Zentimeter. Als sie den Stoff endlich ganz freien, sah man die Form eines menschlichen Körpers zusammengesagt, gebrochen, als wäre er im Fallen verdreht worden.
Ein Schädel lag schief, die Kieferknochen verzogen, als hätte der Tod ihn überrascht. Auf dem Kanwas klebte ein ausgebleichter Namensflicken. B Habrecht. Ich spürte, wie meine Atemzüge kürzer wurden. Markus sagte tonlos: “Beno selbst.” Doch das war nicht alles. Rechts vom Hauptkörper lagen kleinere Knochenstücke. Leichter, heller. Die Forensiker redeten leise, technische Begriffe, aber ich hörte nur Bruchstücke.
Juvenil, weiblich, mehrere Individuen möglich. Ich schloß die Augen. Ruth, Maria. Der Wald hatte dreißig Jahre geschwiegen und gab nun alles in einem Atemzug Preis. Am Rand des Erdfalls setzte ich mich kurz auf einen Stamm, weil meine Beine nachgaben. Markus legte mir eine Hand auf die Schulter. “Er ist in seine eigene Falle gestürzt”, sagte er, wortwörtlich. Ich nickte nur.
Es war eine Gerechtigkeit, die nicht triumphierte, sondern schmerzte. Der Fund verbreitete sich in der Region wie ein heißer Wind. Menschen, die jahrzehntelang nichts gesagt hatten, riefen plötzlich im Landratsamt an und behaupteten, sie hätten damals etwas gehört, gesehen, geahnt. Zu spät, immer zu spät, wenn es um Kinder geht, die man nicht schützen wollte.
Ich verbrachte die nächsten Tage damit, eine Sonderfolge meiner Sendung vorzubereiten. Ich wollte, daß die Welt verstand, daß die Berge nicht nur romantische Silhouetten sind, sondern Zeugen, das Stille kein Zufall ist, sondern manchmal eine Form von Komplizenschaft. Ich schrieb den Verlauf der Ereignisse nieder, den Jagdbericht, die Polaroids, die Aussagen von Ewald und Judit, die Kassette, Helenas Flucht, den Erdfall. Doch je länger ich schrieb, desto mehr spürte ich, daß etwas fehlte.
Helena hatte überlebt, aber sie war nie zurückgekehrt und niemand hatte jemals untersucht, wann genau Benno gestorben war oder ob jemand ihm half oder ob Helena ohne es zu wissen, eine Kette von Ereignissen ausgelöst hatte, die ihn in dieses Erdloch geführt hatten. Ich begann den Weg, den Helena damals gelaufen war, nachzugehen.
Es war ein grauer Morgen, als ich im Tal unterhalb der Habrhütte parkte. Das Wasser des Baches rauschte wie ein alter Atemzug, gleichmäßig, tröstend. Ich folgte der Strömung nach Süden, so wie Helena es beschrieben hatte. Nach einer halben Stunde wurde das Ufer steiler, rutschiger und dann sah ich es. Eine Stelle, an der Hang oberhalb des Baches abgebrochen war. Frische Erde, die in langen Furchen hinunterrutschte.
Ich stieg den Hang hinauf und fand dort zwischen Wurzeln und Steinen die Reste einer alten eingestürzten Falle. Eine von Benos Konstruktionen. Er hatte bekanntlich Holzgestelle gebaut, die im richtigen Moment nachgaben, wenn man sie belastete. Doch diese hier war zerbrochen, als hätte etwas Schweres sie von oben herabgerissen.
Ein Schritt daneben lag ein Rest von grobem Seil. Ich wußte sofort, was ich sah. Beno war nicht in den Erdfall gestürzt, weil der Boden zufällig nachgegeben hatte. Er war mit etwas schwerem unterwegs gewesen und die Falle, die er selbst gebaut hatte, war unter ihm gebrochen. Die Berge hatten ihn nicht einfach verschlungen, sie hatten ihn bestraft. Am Abend rief ich Helena an.
Ihre Stimme war ruhig, aber ein leiser Unterton vibrierte darin wie ein Faden, der zu reißen drohte. “Sie haben ihn gefunden?” “Ja”, sagte ich vorsichtig. “Und sie haben auch Überreste?” “Sille dann, ich wusste es.” Sie sagte es nicht erleichtert, eher wie jemand, der einen harten Gedanken bestätigt bekommt. Er hat immer gesagt, der Wald nehme nur, was ihm gehört.
Ich dachte an Bennos letzte Schritte, an die beiden kleinen Knochen neben ihm, an die unendliche Einsamkeit der Stelle, an der er starb. Helena sagte ich, es wird eine Identifikation geben. Ich möchte, daß du vorbereitet bist. Ich komme, sagte sie. Wenn sie gefunden wurden, dann muß jemand für sie da sein. Ich wußte, daß dies erst der Anfang des letzten schwersten Kapitels war. Die forensischen Analysen dauerten Wochen.
Ich verbrachte diese Zeit damit, jeden Tag aufs Neue in das Landratsamt zu fahren, Protokolle zu prüfen, Anfragen zu beantworten und gleichzeitig die Sendung vorzubereiten, die all das sichtbar machen sollte. Doch im Inneren arbeitete etwas anderes, eine Unruhe, die mich nachts wach hielt. Das Gefühl, dass die Geschichte noch nicht vollständig war.
Nicht, weil Fakten fehlten, sondern weil etwas im Wald selbst noch nicht ausgesprochen war. Als die Ergebnisse endlich kamen, bat man Markus und mich ins Institut nach Freiburg. Der Besprechungsraum war klein, steril, beleuchtet von einer Deckenlampe, die den Raum zugleich zu hell und zu kalt machte. Dr. Patrizia Moos, die leitende Forensikerin, legte drei Akten auf den Tisch. Eine für jeden Fund.
Die großen Knochen gehören eindeutig. Benno Habrcht, begann sie. Der Tod durch massives Trauma ein, wahrscheinlich sofort oder innerhalb weniger Minuten. Der Sturz muß aus erheblicher Höhe oder aufgrund eines plötzlichen Bodenbruchs erfolgt sein. Dann öffnete sie die zweite Akte. Die kleineren Knochen stammen von einem Mädchen im geschätzten Alter von 11 Jahren.
Das passt exakt zu Maria. Ich fühlte, wie sich mein Brustkorb enger zog, aber ich sagte nichts. Die dritten Überreste, sagte Dr. Moos leise, gehören zu einem Mädchen im Alter zwischen 14 und 15. Sehr wahrscheinlich Ruth. Markus starrte auf den Tisch, als könnte er durch die Oberfläche hindurch die Wahrheit greifen. Heißt das? Benno hat beide. Dr.
Mos nickte. Es gibt keine Anzeichen für ein zweites Grab. Der Erdfall hat wahrscheinlich ein Versteck freigelegt, das er selbst angelegt hatte. Wir gehen davon aus, daß er sie nacheinander hinaustrug, um sie an einen anderen Ort zu bringen und dabei stürzte. Es war eine nüchterne wissenschaftliche Erklärung, aber ich hörte darin ein Echo, kein Zufall, keine Willkür, ein Sturz, der genau an der Stelle passierte, an der Wald am brüchigsten war, als hätte das Land selbst zurückgeschlagen. Zwei Tage später kam Helena in den Schwarzwald. Sie wirkte klein in dem
Bahnhof zwischen Reisenden und Koffern, aber als sie auf mich zuging, war in ihrem Blick etwas Unerschütterliches. Ich nahm sie mit in meine Wohnung. Wir tranken Tee, sprachen wenig. Worte wären auch nur Scherben gewesen. Am nächsten Morgen fuhr ich mit ihr zu Dr. Moos. Die Identifikation war kurz, schmerzhaft, unumgänglich.
Helena sah die Röntgenaufnahmen, die Altersangaben, die Messung, keine Bilder, keine unnötigen Grausamkeiten. Trotzdem zitterten ihre Hände, als sie ihre Schwester Marias Knochenform betrachtete, auf einem hellen Monitor, klinisch, sauber und doch wie ein Messer in der Luft. “Sie war so klein,” flüsterte Helena. Sie wollte immer tanzen. Er sagte: “Tanzen sei Sünde.” Ich legte eine Hand auf ihre Schulter.
Sie blieb angespannt, aber wich nicht aus. Das Allein sagte mehr über ihren Überlebenswillen aus als Worte. Später am Nachmittag fuhren wir zur Grabstätte, die die Gemeinde vorbereitet hatte. Der Boden war frisch, die Erde dunkel, feucht. Zwei kleine Holzschilder standen dort, schlicht beschriftet. Ruth Habrecht und Maria Haarbrecht.
Benno wurde nicht hier bestattet. Seine sterblichen Überreste hatte niemand beansprucht. Er würde anonym in einem Sammelgrab landen. Genau dorthin gehörte er. Helena kniete zwischen den beiden Erdhügeln. Ich trat ein paar Schritte zurück und ließ sie allein. Zwischen den Stämmen der Fichten herrschte eine Stille, so dicht und tief, dass sie fast wie ein Atemzug wirkte. Nach einer Weile stand Helena auf.
Ihre Augen waren rot, aber ihr Blick war klar. “Ich will reden”, sagte sie. “Ich will, dass jeder erfährt, was er getan hat und was man versäumt hat zu tun.” Ich nahm sie mit zum Sender. Die Aufnahme dauerte zwei Stunden. Helena erzählte ruhig. Ohne Dramatik, ohne Ausschmückung. Das machte es grausamer als jedes Detail, das ich zuvor hatte rekonstruieren müssen.
Sie sprach von den Nächten, an denen ihr Vater sie zwang, vor dem Ofen zu sitzen und angeblich Unterricht zu erhalten. Von Worten, die wie Befehle waren, von Händen, die keinen Zweifel ließen, von einer Dunkelheit, die sich nicht in der Hütte aufhielt, sondern in ihm. Als die Aufnahme beendet war, schaltete ich das Mikrofon aus, aber wir blieben beide sitzen.
“Kara”, sagte Helena leise. “Meine Schwestern sind jetzt da, wo man sie sieht. Das reicht mir. Aber ich möchte eines wissen. Warum hat niemand geholfen?” Die Frage stand im Raum wie ein Schatten. Ich konnte sie nicht beantworten. Niemand konnte das. Als die Sendung eine Woche später ausgestrahlt wurde, geschah etwas, dass ich nicht erwartet hatte.
Menschen aus der Region riefen an, schrieben Mails, schickten Briefe. Einige baten um Vergebung, andere gaben zu, dass sie Geräusche gehört hatten. Viele sagten, sie hätten Angst gehabt, sich einzumischen. Ein paar sprachen von Benos Ruf, von Traditionen, von falschem Respekt. Alles Ausreden, alles zu spät. Doch ein Brief stach heraus. Keine Absenderadresse, nur ein Satz.
Der Wald hat es gewusst und der Wald hat getan, was die Menschen nicht taten. Ich legte den Brief neben die Polaroids, die Kassette und den Jagdbericht. Und ich begriff, die Berge vergessen nie. Und manchmal, wenn der Schnee schmilzt und die Erde nachgibt, erzählen sie die Wahrheit selbst dann, wenn niemand mehr hinhören will. Der Brief ließ mich tagelang nicht los.
Er lag auf meinem Schreibtisch zwischen Dokumenten, die längst geordnet waren und trotzdem fühlte er sich wie der einzige echte Gegenstand an. Ich lasß die Zeile immer wieder, als würde ich darin einen Hinweis übersehen. Der Wald hat es gewusst und der Wald hat getan, was die Menschen nicht taten. Es klang wie ein Geständnis oder wie eine Warnung oder wie etwas, das jemand schrieb, der mehr gesehen hatte, als er Preis geben konnte.
Währenddessen begann im Schwarzwald etwas, dass man in solchen Gegenden selten sieht. Menschen redeten, manche flüsterten in den Läden, andere sprachen laut auf dem Marktplatz. Einige gingen zur Polizei und gaben nachträgliche Hinweise ab. Doch keine dieser Aussagen brachte uns wirklich weiter.
Alles drehte sich im Kreis, wie die Jahreszeiten, die in diesen Bergen verlässlich ihren Lauf nehmen. Und doch war etwas anders. Die Stille, die Jahrzehntelang über dem Fall gelegen hatte, bröckelte. Eines Abends rief mich Markus an. Kara, du solltest das sehen. Er wirkte merkwürdig angespannt. Wir trafen uns im Revier, wo die Fenster dunkel waren und die Gänge rochen wie altes Papier. Markus öffnete eine Mappe, aus der ein vergilbtes Formular hervorstand. Das ist ein Fund, den wir übersehen haben, archiviert unter falschem Jahrgang. Das Blatt war eine vermissten Meldung. datiert auf Dezember 1990, ausgefüllt von einer Frau Greta Hermann, die im Talhilometer südlich damals eine kleine Pension geführt hatte.
Vermisst, junge Frau, etwa 16 bis 17 Jahre alt, alleine unterwegs, erschöpft, verletzt, später verschwunden. Beschreibung: Dunkle Haare, sehr dünn, spricht kaum, reagiert schreckhaft. Ich sah Markus an. Er nickte. Das muß Helena gewesen sein. Sie war nach ihrer Flucht wohl kurze Zeit dort. Die Anzeige war nie bearbeitet worden.
Auf der Rückseite stand ein Stempel. Nicht zuständig. Weiterleiten. Doch es gab keinen Vermerk, an wen weitergeleitet worden war. Nichts. Nur Stille. Wieder einmal. Wir suchten nach der Frau. Doch die Pension war geschlossen, das Grundstück verkauft. und Greta Hermann längst verstorben. Ihr Sohn lebte jedoch noch im Tal.
Ein Mann Mitte 50, Wortk, wettergezeichneter Blick. Er öffnete uns die Tür, als hätte er längst gewusst, dass jemand kommen würde. “Ihr kommt wegen der Meldung”, sagte er. Es klang nicht wie eine Frage, hätte ich gewusst, was wirklich passiert ist. Er schüttelte den Kopf und starrte auf den Holzboden seiner Diele. Meine Mutter hat damals ein Mädchen aufgenommen. Barfuß, fröstelnd.
Sie hat ihr Essen gebracht, eine Decke, und am nächsten Morgen war sie weg. Hat sie etwas gesagt? Fragte ich. Er überlegte nur einen Satz, einen darf nicht bleiben, sonst findet er mich. Ich spürte, wie sich mir der Magen zusammenzog.
Helena hatte also nach ihrer Flucht wenigstens eine Nacht unter einem sicheren Dach verbracht, aber die Angst hatte ihr jede Möglichkeit genommen, um Hilfe zu bitten. Wir verließen das Haus und als wir draußen standen, sah Markus mich an. Es gab so viele Momente, Kara, so viele Menschen, die etwas hätten tun können. Ja, sagte ich, und keiner tat es. Diese Erkenntnis brannte wie Frost.
Am nächsten Tag wollte ich mit Helena darüber sprechen, doch bevor ich sie anrief, erreichte mich ein anderer Hinweis. Eine Frau aus dem Nachbardorf, Emma Linde, 80 Jahre alt, bestand darauf, mich zu treffen. Sie sagte, sie wisse etwas über den Habrchtfall. Wir saßen in ihrer Küche, die nach Lavendel und alter Marmelade roch, während sie vorsichtig den Löffel in ihren Tee rührte.
Ich sah die Mädchen damals einmal, sagte sie, Jahre bevor sie verschwanden. Sie standen am Waldrand, alle drei. Sie haben nicht gespielt. Sie haben nur gestarrt auf den Weg, als warteten sie auf jemanden. Wen? Fragte ich. Die alte Frau holte tief Luft. Sie sahen aus, als hofften sie auf Rettung. Sie sah mich mit trüben Augen an, aber ich spürte darin eine Schärfe, die ihr Alter nicht getrübt hatte. Es war wie ein stiller Hilferuf, Clara.
Und wissen Sie, was ich tat? Sie senkte den Blick. Ich ging weiter. Ich sagte mir, das sei nicht meine Angelegenheit. Ihre Hände zitterten, als sie den Tee abstellte. Man trägt seine Schuld lange, aber manche Schuld trägt einen selbst. Ich verließ ihr Haus mit einem Gefühl, als hätte der Wind mir die Knochen leer geblasen.
Ich setzte mich ins Auto und schrieb mit zittrigen Fingern eine Notiz. Niemand half, jeder sah weg. Alle wussten etwas und das Schweigen war das Seil, das der Täter in den Händen hielt. Noch am selben Abend traf ich mich mit Hellenah. Wir saßen in der Stube meiner Wohnung. Der Regen prasselte gegen die Scheiben. Ich berichtete ihr alles.
Die vermißen Meldung, die Worte der alten Frau, den Satz. Ich darf nicht bleiben, sonst findet er mich. Helena starrte in die Dunkelheit. Ich erinnere mich an die Pension, sagte sie. Es war warm dort, zu warm. Ich hatte Angst einzuschlafen. Ich dachte, wenn ich einschlafe, sterbe ich. Ich fragte vorsichtig. Er hat dich gesucht. Ja, sagte sie tonlos. Er ist die Wege abgegangen.
Ich hörte ihn rufen, nicht meinen Namen, aber ich wußte, daß er mich meinte. Der Wald hat mich versteckt, nicht die Menschen. Dann sah sie mich an. Ein Blick. So klar, dass er mich erschütterte. Clara, sagte sie, du mußt den letzten Teil erzählen, nicht nur was er getan hat, sondern wie alle ihn haben tun lassen. Mir war, als wäre der Boden unter uns ein zweites Mal aufgebrochen.
Die Wahrheit kam nicht nur aus den Knochen, nicht nur aus dem Kassettenton, nicht nur aus dem Erdfall, sie kam aus dem kollektiven Versagen eines ganzen Tales und das war vielleicht der grausamste Teil der Geschichte. Ich begann die kommenden Tage damit, systematisch jedes Schweigen zu dokumentieren, nicht um Menschen bloßzustellen, sondern um zu zeigen, wie ein Verbrechen dieser Größenordnung überhaupt möglich geworden war.
in einem Tal, das klein genug war, daß jeder jeden kannte und doch groß genug, um drei Mädchen verschwinden zu lassen. Ich suchte nach Spuren in den Gemeindeakten der späten 80er und frühen 90er Jahre. Zwischen Bauanträgen, Jagdlizen und Kirchenprotokollen fand ich etwas, das sich wie ein Splitter ins Fleisch bohrte.
Ein Antrag auf Familienunterstützung, den Anna Habrecht die Mutter wenige Monate vor ihrem Tod gestellt hatte. Sie hatte darum gebeten, dass jemand regelmäßig nach den Kindern sah, weil ihr Mannchmal streng sei. Der Antrag wurde abgelehnt, ohne Begründung. Nur ein roter Stempel. Nicht notwendig. Ich starrte lange auf dieses Blatt. Ein einziger Besuch hätte vielleicht ausgereicht, um ein Unglück zu verhindern. Doch niemand kam.
Ich legte es Helena vor, als ich sie am nächsten Tag traf. Sie las den Antrag und obwohl keine Träne lief, sah ich, wie ihre Schultern sanken. “Sie hat versucht, uns zu schützen”, flüsterte sie, “undem hat sie gehört. Wir saßen in meinem Wohnzimmer, während draußen ein kalter Wind durch die Dächer zog.
” Helena hielt das dünne Papier in der Hand, als spüre sie darin die Wärme einer Mutter, die sie kaum gekannt hatte. Ich war sechs, als sie starb”, sagte sie. Nach der Beerdigung hat er sich verändert. Vorher war er hart, danach war er. Sie suchte nach einem Wort, fand keins. Er hat gesagt, wir gehören jetzt ihm allein und der Wald wäre unser Zuhause und unser Gefängnis. Ich notierte jedes Detail nicht aus journalistischer Distanz, sondern weil jedes Wort von ihr wie ein Schlüssel war, der neue Türen in dieser Geschichte öffnete.
Am Nachmittag fuhren wir gemeinsam zur alten Habrhütte. Die Gemeinde hatte sie nicht abgesperrt. Sie lag zu abgelegen, zu unscheinbar. Die Fichten rundherum standen wie schweigende Zeugen. Die Hütte sah aus wie etwas, das der Wald schon halb verschluckt hatte.
Helena blieb vor der Tür stehen, rührte sie nicht an. “Ich war seit meiner Flucht nie wieder hier”, sagte sie. “Ich weiß nicht, ob ich es kann.” “Du musst nicht hinein”, sagte ich. “Never”. Doch sie schüttelte den Kopf. “Ich will es nicht für mich, für sie.” Sie trat ein. Ich folgte ihr. Der Geruch war derselbe wie damals.
Feucht, alt, wie Erinnerung, die nicht gehen will. Helena sah sich um wie jemand, der in eine eingefrorene Szene seiner Vergangenheit tritt. Sie zeigte auf den Holzofen. Dort hat er uns sitzen lassen, stundenlang, bis wir nicht mehr wussten, ob es Tag oder Nacht war. Ihre Finger zitterten, aber ihre Stimme nicht.
Dann ging sie zum Brett, unter dem ich den Metallkasten gefunden hatte. “Er hat die Dinge, die er tat, immer notiert”, sagte sie. Er sagte, wer aufschreibt, macht sich unsterblich. Ihre Lippen verzogen sich, als wollte sie das Wort ausspucken. Aber das einzige, das von ihm bleibt, ist ein Loch im Boden und zwei Gräber. Plötzlich wandte sie sich ab, ging hinaus.
Ich folgte ihr in den Wald. Sie blieb am Brunnen stehen, der verschlossene Kreis aus altem Stein, überwachsen mit Moos. Er hat uns gedroht, uns da hineinzustoßen, sagte sie tonlos. Ich glaube, er hat es Rut einmal gezeigt, nicht getan, aber gezeigt. Ich spürte die Kälte nicht vom Wind, sondern von ihren Worten. Dann hob sie den Blick zu den hohen Fichten.
“Der Wald hat uns gesehen”, sagte sie leise, aber er konnte uns nicht retten. Menschen hätten es müssen. Wir gingen schweigend zurück. Am Abend bereitete ich die nächste Sendung vor. Eine, die nicht nur die Taten eines Mannes zeigte, sondern das Wegsehen einer ganzen Region. Ich nannte das Kapitel die stille Schuld.
Als ich die Rohfassung Markus schickte, rief er sofort zurück: “Kara”, sagte er, “bist du sicher, dass du das senden willst?” Manche Namen, manche Aussagen. Du wirst Feinde bekommen. Vielleicht, antwortete ich. Aber schweigen hat drei Mädchen das Leben gekostet und indem man schweigt, macht man es immer wieder. Einen Tag später bekam ich eine unerwartete Nachricht.
Eine Frau, die anonym bleiben wollte, schrieb mir, daß sie in den 90er Jahren im Kirchenchor gesungen hatte, zusammen mit einer Frau Klene, einer Tante von Benno. Die Frau berichtete, dass diese Tante oft sagte, der Benno erzieht seine Mädchen streng, die müssen ordentlich werden, nicht so wie die Stadtkinder. Und noch etwas. Was er tut, ist seine Sache. Ich zeigte die Nachricht Helena.
Sie blickte lange darauf. Sie wussten es, sagte sie. Vielleicht nicht alles, aber genug. Warum haben Sie nie etwas gesagt? Fragte ich. Helena sah aus dem Fenster auf die dunklen Konturen des Schwarzwaldes, weil es einfacher ist, einem Monster zu glauben, als zuzugeben, dass man in seiner Nähe gelebt hat.
Ich dachte über diesen Satz nach, lange, nachdem Hellena schlafen gegangen war, und ich wußte, dies war keine Geschichte über einen Mann. Es war eine Geschichte über ein Ökosystem der Blindheit, ein ganzes Tal, das weggesehen hatte, bis der Wald die Wahrheit selbst ans Licht hob. Der Wendepunkt kam, als ich mitten in der Nacht aufwachte, weil jemand gegen meine Wohnungstür geklopft hatte.
nicht laut, nicht hektisch, eher so als wolle jemand sicherstellen, daß ich es hörte. Und nur ich. Ich nahm meinen Mantel, ging zur Tür und fragte, wer draußen sei. Keine Antwort. Erst, als ich die Tür einen Spalt öffnete, sah ich es. Ein Umschlag. Bäch, unbeschriftet. Kein Mensch auf dem Flur, keine Schritte, nur Stille.
Drin fand ich ein dutzend eng beschriebene Seiten. Handschriftlich, alt. Jemand hatte offensichtlich lange darüber nachgedacht, bevor er sie abgegeben hatte. Oben auf der ersten Seite stand nur ein Satz. Verzeih mir, Clara. Ich hätte etwas sagen müssen. Der Absender war niemand, den ich kannte, aber der Inhalt ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.
Es war ein Bericht, ein Geständnis, eine Erzählung aus der Sicht eines Mannes, der über Jahre hinweg gesehen hatte, was in der Habrhütte geschah. Ein Nachbar war er nicht, eher jemand, der tief im Wald arbeitete, ein Holzfäller, der immer wieder an der Hütte vorbeigekommen war. Er schrieb von Schreien, die er ignoriert hatte, von Nächten, in denen er Schritte hörte, von dem Tag, an dem er Ruth gesehen hatte, mit einem Arm, der unnatürlich stand, gebrochen, wie wir inzwischen wussten. “Ich habe mir eingeredet, es sei ein Unfall”, schrieb er. “Ich habe mir
eingeredet, ich sei nicht verpflichtet zu handeln. Ich hatte meine eigene Familie und ich war feige. Der letzte Absatz war der Schlimmste. Einmal stand das jüngste Mädchen am Brunnen. Es war Winter. Sie hatte keine Schuhe an. Ich war vielleicht Schritte entfernt. Ich hätte sie ansprechen können. Ich hätte sie einladen können.
Aber ihr Vater kam aus der Hütte und sie erstarrte. Und ich tat dasselbe. Ich legte die Papiere auf den Tisch und schloss die Augen. Jedes Wort war ein weiterer Beweis dafür, wie sehr die Welt um die drei Mädchen herum versagt hatte. Ich rief Markus an. Obwohl es kurz nach 1 Uhr morgens war, ging er sofort dran. Es ist größer, Markus”, sagte ich leise.
“Größer als Beno, größer als die Hütte. Es war eine kollektive Versteinerung. Bring mir den Brief”, sagte er. “Jetzt.” Eine halbe Stunde später saßen wir im Revier. Neonlicht über uns, die Maschine des Kaffeeautomaten knisternd im Hintergrund. Markus blätterte durch die Seiten. Er wirkte müde, älter als sonst.
Wenn das stimmt, sagte er schließlich, dann war der Täter nicht allein. Er war umgeben von Menschen, die seine Taten nicht sahen wollten. Er sah mich an. Wirst du das veröffentlichen? Ja, antwortete ich. Alles. Markus rieb sich über die Stirn. Das wird hier Konsequenzen haben. Das soll es, sagte ich. Sonst hat diese Geschichte keinen Sinn.
Doch bevor wir den Brief offiziell registrieren konnten, meldete sich Helena. Sie hatte seit Tagen kaum geschlafen. Das sah man ihr an. Clara, sagte sie am Telefon. Ich brauche etwas von dir. Kann ich dich treffen? Wir trafen uns am frühen Morgen im Wald, dort, wo der Bach in einer Kurve über glatte Steine floss. Es war der Ort, an dem Helena während ihrer Flucht gestanden hatte, bevor sie weitergezogen war.
Sie hielt eine alte Stoffpuppe in der Hand. Dünn, abgenutzt, ein Auge fehlte. Sie gehört Maria, sagte sie. Ich habe sie versteckt, als ich noch ein Kind war. Ich wollte nicht, daß er sie findet und verbrennt. Ich glaube, ich glaube, ich wollte ein Teil von uns retten. Die Puppe war feucht vom Morgentau, aber an ihr klebte ein Stück Vergangenheit, das so schwer war wie Stein.
“Ich möchte, dass du sie nimmst”, sagte Helena. Ich kann sie nicht behalten, aber du kannst sie in der Geschichte aufbewahren. Ich nahm die Puppe vorsichtig entgegen. Sie fühlte sich an wie ein Herz, das nicht mehr schlägt, aber immer noch warm ist. Wir gingen ihre Flucht erneut ab, Schritt für Schritt. Helena blieb oft stehen, der Blick ins Leere gerichtet.
“Hier bin ich fast umgefallen”, sagte sie an einer Stelle. Ich hatte so viel Angst, daß ich dachte, ich würde den Wald mit meiner Angst anstecken. Dann, als wir an den brüchigen Hang kamen, an dessen Fuß Benno gestürzt war, blieb sie stehen.
“Ich habe den Schuss gehört”, flüsterte sie, “aber ich wusste nicht, wohin er fiel. Vielleicht war es besser so. Vielleicht hätte ich sonst zurückgeschaut. Es war der erste Moment, in dem ich sah, dass sie innerlich zitterte. nicht wegen der Angst, sondern wegen der Erkenntnis, daß der Wald auf seine Weise Gerechtigkeit geübt hatte, als kein Mensch es tat. “Er war stark”, sagte sie.
“Er war brutal. Er kannte jeden Baum, jeden Pfah und trotzdem hat die Erde ihn geholt, ohne dass jemand ihn stieß.” Ich antwortete nicht. Es gab nichts zu sagen. Wir standen dort und hörten das Rauschen des Wassers, das wie eine Stimme klang, die sich seit Jahrzehnten festgehalten hatte und nun endlich sprechen durfte.
Am Abend zeigte ich Markus die Puppe. Er sah sie lange an, dann sagte er: “Die Geschichte wird alles in diesem Tal verändern.” Das muß sie”, sagte ich, sonst hätten drei Mädchen vergeblich geschrien. Und während ich die Puppe neben den Jagdbericht und die Kassette legte, wusste ich, dass wir uns dem letzten härtesten Teil näherten, dem Kapitel, in dem die Wahrheit nicht nur ausgesprochen, sondern öffentlich getragen werden musste.
Vom ganzen Tal, nicht nur von Helena, nicht nur von mir. Die Tage vor der Veröffentlichung meiner großen Sendung fühlten sich an, als würde der ganze Schwarzwald den Atem anhalten. Die Luft war schwer, die Wolken tief und selbst die Stille zwischen den Bäumen klang gespannt. Ich verbrachte jede Stunde damit, das Material zu ordnen.
Helenas Stimme, die Kassette, die Puppe, der Jagdbericht, die Aussagen von Ewald, Judith, Emma, die anonyme Beichte, die Archivfunde. Was ich zusammengesetzt hatte, war nicht mehr nur ein Bericht über ein Verbrechen. Es war ein Spiegel, in dem ein Tal sich selbst würde sehen müssen und niemand mochte solche Spiegel. Am Nachmittag des Veröffentlichungstages stand Helena in meinem Arbeitszimmer, die Hände aneinander gepresst.
Sie trug denselben Schal wie am Tag unseres Treffens in Köln. Sie wirkte ruhig, aber in ihren Augen lag ein dünner, gespannter Faden, der bei der kleinsten Erschütterung reißen konnte. “Wie viele hören die Sendung?”, fragte sie. “1000? 50.000?” Mehr, sagte ich, und noch mehr, wenn sich die Presse einklingt. Aber du musst nichts sagen, was du nicht sagen willst und nichts begründen.
Deine Existenz genügt. Deine Wahrheit genügt. Sie nickte. Und dann begann die Ausstrahlung. Zuerst spielte ich Helenas Tonaufnahme ein. Ihre ruhige, aber unerschütterliche Stimme, die von den Nächten erzählte, in denen ihr Vater sie zwang, vor dem Ofen zu sitzen, die Hände gefaltet, wie bei einer Gebetsstunde, die nur ihm diente.
Dann kam das Rauschen der Kassette, Helens eigene zitternde Stimme von damals, die Worte, die jeder im Tal hätte hören sollen, als sie noch Kind war. Es war der härteste Teil. Die Unschuld, die sich in den Aufnahmen selbst verriet, die Hilflosigkeit im Atem des Mädchens, dass ich nicht traute lauter zu sprechen, aus Angst, dass selbst der Wald zuhören könnte.
Als ich die Sendung beendete, war der Raum um uns still. Helena saß da, die Hände im Schoß und ihre Augen waren rot, aber trocken. “Es ist draußen”, sagte ich. “Jetzt kann man es nicht mehr verschwinden lassen.” Doch das Tal reagierte schneller, als ich dachte. Noch in derselben Nacht klingelte mein Telefon. Unbekannte Nummer. Ich hob ab. Eine rauhe Männerstimme.
“Sie sollten nicht allein unterwegs sein, Frau Böhm.” Dann ein Klicken. Die Verbindung brach ab. Ich stand lange im dunklen Flur, das Handy in der Hand, während die Kälte mir in den Rücken kroch. Aber Angst war ein Luxus, den ich mir nicht mehr leisten konnte. Am nächsten Morgen war die Hölle los. Vor dem Revier standen Journalisten, Menschen aus dem Tal diskutierten auf dem Marktplatz.
Einige riefen nach Aufklärung, andere behaupteten, ich würde alles übertreiben. Wieder andere sagten: “Ich solle dankbar sein, dass der Täter tot sei.” Helena blieb bei mir. Wir gingen nicht auseinander, bis klar war, welche Reaktion nur Worte waren und welche gefährlich werden konnten. Gegen Mittag kam Markus. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen.
“Wir haben über 20 neue Hinweise”, sagte er. Einige nützen nichts, andere könnten helfen. Ich folgte ihm ins Revier. Am Besprechungstisch lagen Ausdrucke, Notizen, Meldungen. Eine besonders stach heraus. Eine Frau aus dem Nachbarddorf, die anonym bleiben wollte, sagte aus, sie habe in den 80er Jahren gesehen, wie Benno mit einer seiner Töchter vor dem Brunnen stand und wie das Mädchen versucht hatte, rückwärts von ihm wegzutreten. Er packte sie am Arm, hieß es, und sie wurde plötzlich ganz steif.
Ich sagte mir damals, das sei strenge Erziehung. Heute weiß ich, dass es Angst war. Ich starrte auf den Text. Das war ein Muster, das sich durch alle Aussagen zog. Niemand wollte es sehen. Nicht, weil sie es nicht gesehen hatten, sondern weil die Wahrheit unbequem gewesen wäre. Gegen Abend geschah etwas Unerwartetes.
Helena bekam einen Brief, diesmal mit Absender. Lukas Habrecht, ein Cousin ihres Vaters, ein Mann, der nie öffentlich über die Familie gesprochen hatte. Sie öffnete den Brief mit vorsichtigen Fingern. Ich saß neben ihr und spürte, wie die Luft im Raum schwerer wurde. Der Brief war kurz. Helena, ich wußte von euren Verletzungen. Mein Vater sagte, man mische sich nicht ein. Ich war zu jung, zu feige, zu angepasst.
Ich habe alles gehört, was im Wald geschah. Aber ich habe nichts getan. Heute schäme ich mich dafür. Wenn du reden willst, ich bin bereit. Helena hielt das Papier eine Weile in der Hand, dann legte sie es weg. Es kommt zu spät”, sagte sie. “Aber wenigstens kommt es.” In dieser Nacht ging ich allein zur Habrhütte, obwohl Markus mich gewarnt hatte, nicht im Dunkeln unterwegs zu sein.
Ich nahm eine Taschenlampe mit, stapfte durch die Schneereste, bis ich die Hütte erreichte. Der Wald war dunkel, aber nicht feindselig, eher wach, als hätte er ein Auge auf mich. Ich trat ein. Die Hütte war leer, doch sie fühlte sich nicht mehr so an. Etwas hatte sich verändert, nicht im Raum selbst, sondern in dem, was die Geschichte aus dem Raum gemacht hatte. Er war kein Gefängnis mehr, keine Grube. Es war ein Beweisstück und ein Mahnmal.
Am Boden, wo eins der Kasten gelegen hatte, war das Holz heller als der Rest. Ich strich mit den Fingern darüber und dann sagte ich es laut in die Dunkelheit hinein zu den Wänden, die alles gehört hatten. Ihr seid nicht mehr verschwunden. Ich blieb dort, bis die Kälte durch meine Kleidung kroch.
Dann verließ ich die Hütte und wusste, der Wald hatte neue Zeugen bekommen. Und diesmal würden sie nicht schweigen. Am Morgen nach der Ausstrahlung fühlte sich der Schwarzwald anders an. Nicht, weil die Bäume sich bewegt oder die Wege ihren Verlauf geändert hätten, sondern weil sich etwas Unsichtbares verschoben hatte. In den Bäckereien wurden nicht mehr nur Brötchen verkauft, sondern Meinungen.
Auf dem Wochenmarkt lagen zwischen Äpfeln und Schwarzwälder Schinken plötzlich Sätze wie: “Ich habe es immer gewusst” oder “Man hätte damals schon was machen müssen in der Luft.” Die Geschichte war nicht länger mein Thema. Sie gehörte jetzt allen und genau das machte sie gefährlich. Im Landratsamt herrschte Ausnahmezustand.
Der Landrat, sonst ein Mann mit bedachter Sprache und kontrollierter Miene, wirkte, als sei ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Journalisten wollten wissen, warum der Antrag von Anna Hab recht abgelehnt worden war, warum die vermissten Anzeige aus der kleinen Pension nie bearbeitet wurde, warum niemand überprüft hatte, ob drei Mädchen tatsächlich fortgezogen waren. Niemand hatte gute Antworten.
waren Formulierungen im Umlauf, die ich in solchen Momenten auswendig kannte. Die Zuständigkeiten waren damals unklar. Man kann die Maßstäbe von heute nicht an die Vergangenheit anlegen. Es gab keine Hinweise auf akute Gefahr. Worte wie Nebel. Sie sahen nach etwas aus, lösten sich aber auf, sobald man sie berührte.
Die Staatsanwaltschaft in Freiburg kündigte an, die Vorgänge zu prüfen, nicht um Benno zur Verantwortung zu ziehen, er war tot, sondern um zu klären, ob es Pflichtverletzungen gegeben hatte. Beamte, die mir noch vor wenigen Monaten misstrauisch begegnet waren, schickten mir jetzt Aktenkopien, anonym, kommentarlos. Manche mit gelben Markierungen, die wie stille Schreie wirkten. Hier damals. Seht hin.
Helenas Name war nun nicht mehr nur in meiner Sendung, sondern in überregionalen Zeitungen. Sie wurde zur Überlebenden vom Schluchtwald, zur Symbolfigur, ob sie wollte oder nicht. Als wir an einem dieser Tage durch das Dorf ging, blieben Menschen stehen. Manche nickten ihr respektvoll zu, andere sahen weg.
als sei sie ein Spiegel, in den sie sich nicht trauten zu schauen. Am schlimmsten waren jene, die meinten, sie trösten zu müssen, indem sie sagten: “Du hast doch überlebt. Das ist doch die Hauptsache.” Helena lächelte dann höflich, aber ich sah, wie sich ihre Finger in die Taschen ihres Mantels krallten. Am Nachmittag saßen wir mit Markus in einem Besprechungsraum im Polizeirevier.
Auf dem Tisch lag der anonyme Bericht des Holzfällers, daneben die Notiz der Wirtin, der Antrag der Mutter, die alte vermissten Anzeige. Markus fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Wenn man all das zusammennimmt, sagte er, hätte dieser Fall nie ein kalter Fall werden dürfen. Es war nie ein kalter Fall, entgegnete Helena leise. Nur für euch.
Für uns war er jeden Tag heiß. Sie hatte recht. Markus nickte langsam. Die Staatsanwaltschaft will dich als Zeugin hören sagte er. Nicht nur zu den Taten deines Vaters, sondern auch dazu, wie die Behörden reagiert haben oder eben nicht. Helena atmete tief durch. Ich habe meine Angst lange genug gepflegt, sagte sie.
Sie hat mir das Leben gerettet, aber sie hat mich auch festgehalten. Ich werde aussagen. In den folgenden Tagen bereitete ich eine weitere Sendung vor. Sie war anders als die vorherigen. Weniger Erzählung, mehr Analyse. Ich stellte Dokumente nebeneinander, las Passagen aus abgelehnten Anträgen vor, ließ Expertinnen und Experten zu Wort kommen, die erklärten, wie ein funktionierendes System hätte reagieren müssen.
Eine Psychologin sprach darüber, wie wichtig es sei, ungewöhnliches Verhalten von Kindern ernst zu nehmen. Ein ehemaliger Jugendamtsmitarbeiter erzählte, wie Überlastung und mangelnde Zuständigkeit zu blinden Flecken führen. Doch am eindrücklichsten war eine ältere Sozialarbeiterin, die sagte: “Manchmal ist nicht das Böse das Schlimmste, sondern die Gleichgültigkeit der Anständigen.
” Währenddessen rückte die Vergangenheit auch institutionell näher. Ein ehemaliger Revierleiter, der damals in den späten 80er Jahren zuständig gewesen war und inzwischen im Ruhestand lebte, tauchte in den Nachrichten auf. Man zeigte alte Fotos von Jagdausflügen, auf denen er lachend neben Benno stand, zwischen Trophäen und Bierkrügen.
“Wir waren entfernte Verwandte”, sagte er vor laufender Kamera, “aber ich wusste nichts von seinem Privatleben. Es klang hohl, zu glatt, zu sehr nach Selbstschutz. Im Dorf kursierten Geschichten darüber, wie er damals jeden Hinweis auf die Habs mit einem abwinkenden Familienangelegenheit vom Tisch gefegt habe. Offiziell blieb das unbewiesen.
In den Stuben der Menschen jedoch war das Urteil längst gefällt. Eines Abends, als wir die Nachrichten schauten, sah Helena, wie ein Reporter vor der alten Hütte stand und über die dunkle Seite des Schwarzwaldes sprach. Sie verzog das Gesicht. Es geht nicht um den Wald”, sagte sie. “Der Wald ist nur Kulisse. Das, was passiert ist, hat Menschen gemacht.
Menschen, die entschieden haben, nicht hinzusehen oder wegzusehen.” “Was wünscht du dir?”, fragte ich. “Jetzt, wo alles offen liegt?” Helena überlegte. “Keine Rache”, sagte sie. “Die holt meine Schwestern nicht zurück. Ich wünsche mir, dass jedes Mal, wenn irgendwo ein Kind verschwindet, jemand diese Geschichte im Kopf hat und dass dann jemand handelt, nicht wegschaut, nicht wieder sagt, das geht mich nichts an.
Später, als ich allein war, hörte ich mir die alten Aufnahmen noch einmal an. Helenas zitternde Jugendstimme. Die pausenlosen, schweratmenden Sekunden zwischen den Sätzen. Ich dachte an die Hörenden irgendwo im Land, in Küchen, in Autos, in stillen Zimmern. Und ich hoffte, dass wenigstens einige von ihnen begriffen hatten, dass diese Geschichte nicht nur im Schwarzwald stattfinden konnte, sondern überall, wo Stille bequemer ist als Wahrheit.
Am nächsten Morgen lag ein weiterer Brief. in meinem Postfach. Kein Drohbrief diesmal, sondern ein Schreiben vom lokalen Jägerverein. Sie teilten mit, dass Bennos Name aus ihrer Chronik entfernt worden war. Seine Jagdauszeichnungen würden nicht länger in ihrer Halle hängen. “Wir wollen uns von ihm distanzieren”, stand dort.
Ich legte den Brief neben die Puppe, den Jagdbericht und die Kassette und ich dachte, es ist ein Anfang, kein Ausgleich, kein Ersatz. Aber ein Anfang. Die Stimmung im Tal blieb aufgeheizt, aber sie begann sich zu verändern. Die Leute flüsterten nicht mehr nur. Sie stellten Fragen, richtige Fragen. Fragen, die man vor 30 Jahren hätte stellen müssen.
Warum hat niemand kontrolliert, ob die Mädchen wirklich in eine andere Stadt zog? Warum war kein Jugendamt jemals dort? Warum wurde ein Antrag der Mutter einfach abgestempelt und abgelehnt? Warum hatten so viele Menschen etwas gesehen, aber niemand etwas gesagt? Doch während das Dorf langsam aufwachte, begann für Helena der schwerste Teil.
Die Staatsanwaltschaft lud sie zu einer offiziellen Befragung ein, nicht als Verdächtige, nicht einmal als Opfer, sondern als wichtigste Zeugin eines Falls, der nie hätte kalt werden dürfen. Ich begleitete sie nach Freiburg. Der Gang durch die langen hellen Korridore wirkte wie ein Marsch durch eine Vergangenheit, die man endlich ans Licht gezwungen hatte.
Helena setzte sich an den Tisch, die Hände gefaltet, der Schal eng um den Hals. Der Staatsanwalt, ein Mann mit ruhiger Stimme, begrüßte sie respektvoll, aber sachlich. Dann begannen die Fragen. Helena erzählte Stück für Stück ohne schreien, ohne zittern, aber mit einer Ehrlichkeit, die dem Raum die Luft nahm.
Sie sprach über Benos Wutanfälle, über die Strafen, über die Nächte, in denen er das Haus verriegelte, über die Angst, die sie wie ein zweites Herz in ihrer Brust getragen hatte und über die beiden Schwestern, deren Leben sich irgendwo zwischen Holzofen, Brunnen und verschlossenen Türen abgespielt hatte. Manchmal stockte sie, aber sie brauchte keine Ermutigung. Sie wusste, warum sie hier war.
Als sie fertig war, sah der Staatsanwalt lang auf seine Notizen. Dann sagte er: “Frau Braun, ihr Überleben war nicht Zufall, es war Stärke.” Doch Helena schüttelte den Kopf. “Nein”, sagte sie. “Es war Flucht.” Wir fuhren zurück in den Schwarzwald, schweigend, während die Berge am Fensterrand vorbeizogen.
Wie stumme Zeugen, die mehr wussten als jeder Mensch. Und wieder dachte ich an den Satz aus dem anonymen Brief: “Der Wald hat es gewusst. Vielleicht stimmte das. Vielleicht wußte der Wald alles.” Aber er war nie verantwortlich. Menschen waren es. Am Abend bereitete ich die nächste Sendung vor.
Ich wollte die Stimmen der Bewohner zu Wort kommen lassen. Nicht nur die Geständnisse und Entschuldigungen, sondern auch die Widersprüche, die Verdrängung, die plötzliche Empörung. Ich sprach mit einer Gruppe Jugendlicher im Dorf, die mir sagten: “Ihre Eltern sein seit Tagen nervös.
” “Meine Mutter sagt, man hätte die Geschichte ruhen lassen sollen”, sagte einer, “aber ich finde, es ist richtig so.” Ein anderer Junge erzählte, seine Großmutter habe schon vor Jahren gesagt, bei den Habrechts stimmt was nicht. Doch niemand nahm sie ernst, weil sie immer so viel redete. Ein drittes Mädchen sagte leise: “Man denkt immer, Monster sehen aus wie Monster, aber er war ein Jäger, ein Waldmann, einer von uns. Dieser Satz blieb mir im Kopf hängen.
Am nächsten Tag, während ich die Stimmen zusammenschnitt, bekam ich einen Anruf vom Landratsamt. Eine Frau aus der Verwaltung, Mitte 60, seit Jahrzehnten im Dienst. Ihre Stimme war brüchig. “Ich war damals dabei”, sagte sie, als der Antrag von Anna Habrecht auf meinem Schreibtisch lag.
“Ich erinnere mich an ihn. Ich erinnere mich an Sie und ich habe damals gedacht, sie übertreibt, weil viele Frauen übertrieben haben, wenn sie sich beschwerten.” So dachte ich damals. Ihre Stimme brach. Ich will Ihnen das sagen, weil ich weiß, dass mein Schweigen etwas gekostet hat und ich kann es nicht mehr ändern.
Aber ich kann es ihnen sagen. Als ich aufgelegt hatte, mußte ich mich hinsetzen. Nicht, weil der Inhalt neu gewesen wäre, sondern weil er endlich ausgesprochen war. Endlich hatte jemand aus dem System, das versagt hatte, die Verantwortung benannt. Am Nachmittag ging ich mit Helena erneut zur Grabstelle ihrer Schwestern.
Sie stand lange vor den beiden kleinen Holzschildern, dann sagte sie, er hat sie uns genommen, aber sie haben sie zurückgebracht. Ich schüttelte den Kopf. Nicht ich, sagte ich, der Wald und die Wahrheit. Sie lächelte schwach. Vielleicht, aber jemand mußte zuhören. Wir blieben dort, bis die Schatten länger wurden.
Der Wind strich durch die Fichten und ich hatte das Gefühl, dass die Berge selbst leiser geworden waren, nicht friedlich, sondern aufmerksam, als warteten sie darauf, wie das letzte Kapitel ausgehen würde. Am Abend klingelte mein Handy erneut. Markus, seine Stimme klang angespannt. Kara, du mußt sofort ins Revier kommen. Es gibt etwas Neues und es betrifft nicht Beno. Nicht direkt, sondern wen? Er zögerte, den Revierleiter von damals, den Mann, der behauptet, er habe nichts gewusst. Ich erstarrte.
Was ist passiert? Jemand hat uns Informationen zugespielt”, sagte Markus leise. “Und wenn das stimmt, dann war er nicht nur blind, er war beteiligt. Mir wurde kalt, ganz kalt. Ich brauchte einen Moment, um wieder atmen zu können. Ich komme sofort”, sagte ich und ich wusste, die Geschichte war noch nicht zu Ende, nicht einmal annähernd.
Als ich das Revier betrat, war die Atmosphäre angespannt wie vor einem Gewitter. Markus wartete bereits im Besprechungsraum, die Arme verschränkt, der Blick hart. Auf dem Tisch lag eine Mappe, die er mit einer Mischung aus Wut und Vorsicht ansah. “Das kam heute morgen anonym”, sagte er. “Per Kurier, kein Absender, keine Fingerabdrücke.” Ich setzte mich. Er schob mir die Mappe hin. Darin lagen drei Dokumente.
Das erste war ein Jagdbericht, ähnlich dem von Beno, doch dieser stammte nicht von ihm. Der Name oben war deutlich zu lesen. Erwin Schober, der damalige Revierleiter und Benos entfernter Verwandter. Das zweite Dokument war ein handschriftlicher Brief, zerknittert, alt, vermutlich jahrzehnte alt.
Die Schrift war fahrig, gepreßst, als hätte der Verfasser Angst gehabt, jemand könnte ihm über die Schulter schauen. Erwin weiß Bescheid seit Jahren. Ich habe ihn gewarnt. Er hat gesagt, Familie ist Familie. Kein Name unter dem Satz, nur die Initialen. JH. Das dritte Dokument war ein Foto, verblasst, aber eindeutig. Darauf standen drei Männer vor der Habhütte.
Beno, der alte Revierleiter Erwin und ein dritter Mann, den ich nicht kannte. Und in der Bildmitte, kaum sichtbar, aber unbestreitbar, zwei Kinderköpfe im Türrahmen. Ru und Helena, vielleicht 9 Jahre alt. Ich spürte, wie mir der Atem stockte. Das ist ein Beweis”, sagte ich leise. Markus nickte düster. Schober war oft dort, viel öfter als er zugegeben hat.
Und das hier, erhob den Jagdbericht, enthält Notizen zu häuslicher Disziplin, familiären Angelegenheiten. Das sind Codeworte. Diese benutzt man nicht zufällig. Mir wurde schwindlig. Er hat es gedeckt. Markus fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er hat es zumindest gewußt und nichts unternommen. Und vielleicht hat er sogar geholfen, alles zu vertuschen.
Ich sank gegen die Lehne des Stuhls. Mein Kopf war voller Stimmen, Hellenas, der von Rut und Maria, die nie sprechen durften. Und jetzt ein neuer Klang. Wut. Reine klare Wut. Er lebt noch, oder? Fragte ich. Markus nickte. Ja, und er ist nicht glücklich über die Berichterstattung. Er hat sich beschwert schriftlich. Er behauptet, du würdest ihn verläumten. Ich lachte bitter.
Ich habe noch gar nichts über ihn gesagt. Aber du wirst, sagte Markus. Und er weiß es. Er sah mich ernst an. Kara, du mußt vorsichtig sein. Ich nickte, doch mein Blick blieb auf dem Foto. Die Mädchen sahen heraus, als hofften sie, jemand würde sie sehen. Der Revierleiter stand keine zwei Meter von ihnen entfernt und er tat nichts.
Am Abend traf ich Hellena. Ich mußte ihr sagen, was wir gefunden hatten. Wir saßen in der Küche. Die Lampe warf warmes Licht auf ihre Hände, die sich immer wieder um die Tasse schlossen und wieder öffneten. “Ich kann dir etwas zeigen”, sagte ich vorsichtig. “Aber es wird schwer.” “Das ist es immer”, sagte sie. Ich legte die drei Dokumente vor sie.
Sie sah zuerst das Foto. Ihr Atem stockte. Ihre Finger strichen über die kleinen Gesichter im Türrahmen. Ihre Stimme war kaum hörbar. Das ist der Tag, an dem er uns gezwungen hat, Holz zu stapeln. Dann sah sie den Revierleiter. Ihr Blick verhärtete sich. Er war oft da, sagte sie leise. Er hat uns gesehen. Immer. Was hat er gesagt? Fragte ich. Helena lächelte bitter.
Er hat einmal gesagt: Strenge macht gute Mädchen. Ich dachte damals, das sei normal. Ihre Hand zitterte. Er war der einzige, der zu meinem Vater ins Haus durfte, der einzige, der nicht klopfen mußte. Ich mußte mich am Tisch festhalten. Es war einer dieser Momente, in denen die Geschichte eine neue dunklere Tiefe bekam, von der man gehofft hatte, sie existiere nicht.
“Du musst das nicht heute verarbeiten”, sagte ich. Doch”, sagte Helena, “denn wenn ich es nicht tue, tue ich es nie.” Am nächsten Tag bat die Staatsanwaltschaft um ein zweites Gespräch. Diesmal nicht nur mit Helena, sondern auch mit mir und Markus. Der alte Revierleiter war offiziell zur Anhörung geladen worden. Er war nicht erschienen.
Stattdessen hatte er über seinen Anwalt mitteilen lassen, er fühle sich öffentlich vorverurteilt. Die Ermittler legten uns die neuen Dokumente vor und stellten viele Fragen. Woher kam die Mappe? Wer konnte sie gesendet haben? Warum jetzt? Ich hörte die Fragen, aber mein Kopf war bei dem Brief mit den Initialen G. H.
Wer war das? eine entfernte Verwandte, eine Nachbarin, jemand, der viel früher sprechen wollte und dann verstummte. In der Pause standen Markus und ich im Flur. Ich fragte: “Was, wenn die dritte Person auf dem Foto auch etwas wusste?” Markus seufzte. “Das Foto ist alter. Manche Menschen leben vielleicht nicht mehr oder wollen nicht mehr reden.
Und was, wenn sie geredet haben?” Ich sah ihn an. Der anonyme Holzfäller, die alte Pensionbesitzerin, die Kirchenfrau, der Cousin. Sie reden erst jetzt, Markus. Warum? Markus schwieg einen Moment, weil du sie gezwungen hast, hinzusehen. Ich schüttelte den Kopf. Nicht ich. Die Wahrheit.
In dieser Nacht saß ich lange an meinem Schreibtisch, sah mir die Puppe an, das Foto, den Jagdbericht, den Brief. das Protokoll der vermissten Anzeige, den Antrag der Mutter. Jeder Gegenstand war ein Splitter einer zersprungenen Welt und alle fügten sich zusammen zu einem Muster, das größer war als einzelner Täter. Ein System, das jemanden wie Benno entstehen ließ.
Ein System, das ihn gewähren ließ, ein System, das wegsah. Kurz vor Mitternacht erhielt eine Nachricht, unbekannte Nummer, einziger Satz. Du bist in Gefahr und darunter Erwin hat noch Freunde. Mir wurde kalt, sehr kalt, denn jetzt hatte die Wahrheit nicht nur Vergangenheit, sondern Gegenwart. Und sie bewegte sich. Ich konnte die Nachricht stundenlang nicht aus der Hand legen. Erwin hat noch Freunde.
Der Satz brannte wie etwas, das man zu spät bemerkt, weil es zuerst harmlos aussieht. Ein Funke, der sich in etwas Größeres verwandelt. Ich ging jede Möglichkeit im Kopf durch. Wer würde einen alten Revierleiter schützen? Wer hatte Interesse daran, dass die Geschichte nicht weiter ans Licht kam? Alte Jagdkameraden, Nachbarn, die sich mitschuldig fühlten, Beamte, die damals wegschauten und heute Angst hatten, ihre eigenen Namen könnten an die Oberfläche kommen. Alles war möglich.
Am nächsten Morgen rief Markus an. Sein Tonfall war knapp. angespannt. Kara, du kommst heute nicht allein irgendwohin. Gar nicht. Wir holen dich ab. Ich antwortete nicht sofort. Ich starrte auf die Hütte, die man vom Fenster aus kaum sehen konnte, aber die in meinem Kopf wie ein dunkler Fleck fortlebte. Dann nickte ich, obwohl er es nicht sehen konnte.
Er und ein Kollege brachten mich ins Revier. Helena war bereits dort. Sie hatte schlecht geschlafen. Das sah man an der Spannung in ihrem Gesicht. Aber ihre Augen waren klar und entschlossen. “Ich gehe nicht weg”, sagte sie, als ich eintrat. “Ich werde nicht wieder weglaufen. Nicht vor ihm, nicht vor denen, die ihn gedeckt haben.” In einem Konferenzraum lagen weitere Unterlagen bereit.
Neue Hinweise, neue Aussagen, neue Teile des Puzzles, das sich unaufhaltsam zusammenfügte. eine anonyme Meldung aus einer nahegelegenen Gemeinde. Der Revierleiter soll Ende der 80er Jahre eine Überprüfung der Habrhütte eigenmächtig abgewiesen haben. Ein pensionierter Jagdpächter sagte aus: Erwin habe öfter vom strengen, aber notwendigen Umgang mit Kindern gesprochen und eine ehemalige Verwaltungsmitarbeiterin, die niemand auf dem Schirm gehabt hatte, meldete sich plötzlich freiwillig.
Er hat damals verhindert, dass wir nachsehen. Er sagte, die Familie wolle keine Einmischung. Dann kam der entscheidende Hinweis: “Jemand hatte die Identität des dritten Mannes auf dem Foto erkannt. Ein gewisser Rolf Bacher, ein Mitglied der damaligen Forstgemeinschaft, inzwischen verstorben.
Doch in alten Protokollen fand man einen Eintrag über eine Sonderbegehung des Habgeländes, bei der beide, Erwin und Rolf anwesend gewesen waren. Es gab keine Notizen darüber, was sie gesehen hatten, nur ihre Unterschriften. Sie waren dort, sagte ich. Sie standen vor der Tür. Sie sahen die Kinder und sie sagten nichts. Markus schloss die Augen.
Wenn wir das beweisen können, wird es zum ersten Mal seit 30 Jahren echte greifbare Verantwortung geben. Wir beschlossen, Erwin erneut zu kontaktieren. Dieses Mal nicht über seinen Anwalt. Persönlich. Markus und ein weiterer Beamter fuhren zu seinem Haus, einer alten Jagdhütte am Rand des Tals. Helena und ich blieben im Revier. Es dauerte keine halbe Stunde, bis Markus zurückrief.
“Er hat die Tür nicht geöffnet”, sagte er. “Er war da. Wir haben ihn gehört, aber er hat uns nicht reingelassen. Hat er etwas gesagt?” “Ja,” antwortete Markus tonlos. Er sagte: “Ihr habt keine Ahnung, wie das damals war. Ich spürte, wie in mir ein bitterer Knoten entstand, ein Knoten aus Wut, Trauer und dem Wissen, dass manche Menschen lieber sterben würden, als die Wahrheit zuzulassen.
Doch noch am selben Abend meldete sich ein weiterer Zeuge, eine Frau, die vor Jahrzehnten im Dorfladen gearbeitet hatte. Sie sagte, Erwin hat einmal gesagt, der Benno habe drei Mädchen, die man im Griff halten müsse. Ich wußte nicht, was das bedeutet oder ich wollte es nicht wissen. Sie weinte am Telefon, nicht laut, aber tief.
Ich nahm jede Aussage auf, jede Silbe nicht, um jemanden zu zerstören, sondern weil jedes Wort eine Stufe auf dem Weg zur Wahrheit war. Und dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte. Erwin stellte sich. Am frühen Morgen meldete sich sein Anwalt. Der alte Revierleiter wolle eine Erklärung abgeben. Keine vollständige Aussage, kein Geständnis, aber eine Erklärung.
Wir versammelten uns im Revier Markus, zwei Beamte, die Staatsanwältin Helena und ich. Erwin trat ein. Ein alter Mann, aber nicht gebrochen. Er jemand, der zu lange geschwiegen hatte und das Gewicht seines Schweigens nun spürte. Er setzte sich, sah nicht zu Helena, sah nicht zu mir. Dann begann er: “Ich habe gewusst, dass Benno streng war.” Zu streng. Ich habe gesehen, dass die Mädchen Angst hatten.
Aber damals damals war das nicht so, wie sie es heute sehen. Man mischte sich nicht ein. Familien hatten ihre Angelegenheiten und Benno war ein Habrecht, ein Mann von altem Schlag. Die Staatsanwältin unterbrach ihn. Sie haben die Mädchen gesehen. Sie standen hinter ihnen. Warum haben Sie nichts getan? Erwin atmete schwer.
Dann sagte er den Satz, der mir bis heute im Kopf nachhalt, weil ich Angst vor ihm hatte und weil ich glaubte, es sei nicht meine Aufgabe. Helena stand auf. nicht laut, nicht wütend, nur aufrecht. “Es war ihre Aufgabe”, sagte sie leise. “Sie hätten uns retten können.” Erwin sah sie zum ersten Mal an und etwas in seinem Gesicht zerbrach.
Kein dramatisches Zusammenfallen, kein Wein, nur ein winziger Bruch, wie ein Sprung in kaltem Glas. Es tut mir leid”, sagte er, “aber leid tun ist nichts wert, wenn man dreig Jahre zu spät kommt.” Dann schwieg er. Die Staatsanwältin erklärte, dass gegen ihn ermittelt werde, wegen unterlassener Hilfeleistung, Behinderung von Ermittlungen, möglicherweise auch wegen aktiver Vertuschung. Doch viele dieser Vergehen waren längst verjährt.
Die juristische Gerechtigkeit würde begrenzt sein, aber die öffentliche Wahrheit nicht. In den folgenden Wochen berichtete jedes große Medium über den Fall. Die Menschen sprachen von systemischem Versagen, von kulturellem Schweigen, von Tätern durch Untätigkeit. Helena wurde nicht zu einer Heldin gemacht und das war gut so. Man zeigte sie als das, was sie wirklich war.
Ein Mädchen, das überlebt hatte, weil es weglief und eine Frau, die zurückkam, um zu sprechen. Am Tag ihrer endgültigen Aussage standen wir gemeinsam auf einem Hügel über dem Tal. Der Wind wehte durch die Fichten und die Sonne lag flach über den Bergen. Helena sagte: “Meine Schwestern haben nie eine Stimme gehabt. Jetzt haben sie eine.” Ich sah zum Wald hinüber.
Der Schwarzwald, dunkel, tief, uralt. ein Ort voller Leben und voller Schatten. Und doch hatte er eines getan. Er hatte die Wahrheit nicht für immer begraben. Er hatte sie zurückgegeben. Als wir gingen, blieb ein Gedanke in mir zurück, klar und endgültig. Nicht der Wald hatte versagt, die Menschen hatten versagt und die Geschichte existierte, damit es nie wieder geschehe.




