Gebt mir eure Kinder!“ – Die tragischste Woche im Ghetto Litzmannstadt, September 1942
Im September 1942 kam es im Ghetto Litzmannstadt (heute Łódź, Polen) zu einer der verheerendsten und herzzerreißendsten Aktionen des Holocaust: der sogenannten Gehsperre-Aktion. Innerhalb weniger Tage wurden mehr als 15.000 jüdische Kinder, alte Menschen und Kranke gewaltsam aus ihren Familien gerissen und in das Vernichtungslager Chełmno deportiert – darunter auch Erika Gage, ein einjähriges Mädchen, das nie die Chance hatte, aufzuwachsen.
Am 1. September 1942, dem dritten Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, begannen die deutschen Besatzer mit einer massiven Deportationswelle aus dem Ghetto. Ziel: die “Säuberung” des Ghettos von den “Nichtarbeitsfähigen”. Betroffen waren insbesondere Kinder unter zehn Jahren, Alte und Kranke – diejenigen, die sich am wenigsten wehren konnten.
Die Straßen des Ghettos wurden blockiert. Bewaffnete SS-Männer und Polizei durchkämmten jeden Winkel. Ein Zeuge berichtete später:
“Sie warfen die alten Leute auf Wagen, Kinder schrien nach ihren Müttern – es war ein Alptraum bei lebendigem Leib.”
Am 4. September trat Chaim Rumkowski, der umstrittene Vorsitzende des Judenrats im Ghetto, vor die versammelten Menschen und sprach Worte, die sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben:
„Gebt mir eure Kinder!“
„Ich muss die Glieder abschneiden, um den Körper zu retten…“
Mit Tränen in den Augen appellierte er an die Vernunft – in der Hoffnung, dass eine selektive Auslieferung das restliche Ghetto retten könnte. Doch viele empfanden seinen Appell als Verrat.
Am 5. September begann die Hauptaktion unter dem zynischen Namen „Gehsperre“, was auf Deutsch schlicht “allgemeines Ausgangsverbot” bedeutet. Die jüdische Bevölkerung wurde in ihren Häusern eingesperrt, während bewaffnete deutsche Einsatzkräfte brutal Wohnung für Wohnung durchsuchten. Wer sich versteckte oder fliehen wollte, wurde erschossen.
An diesem Tag wurde auch Frances Gage, damals 19 Jahre alt, von ihrer kleinen Tochter Erika getrennt. Später berichtete sie:
„Sie haben alle Straßen im Ghetto abgeriegelt. Sie haben die Kranken, Alten und kleinen Kinder genommen – es war schrecklich. Und sie haben auch mein Baby mitgenommen.“
Erika war gerade ein Jahr alt.
Die Deportationen dauerten bis zum 12. September 1942. In dieser einen Woche wurden über 15.000 Menschen nach Chełmno gebracht. Dort wartete der Tod in mobilen Gaswagen – ein makabrer Vorläufer der industriellen Massenvernichtung in Auschwitz. Hunderte weitere Menschen wurden bereits im Ghetto erschossen, weil sie Widerstand leisteten oder sich verstecken wollten.
Die Gehsperre-Aktion wurde zu einem der erschütterndsten Kapitel der Shoah in Polen. Viele Eltern, die gezwungen waren, ihre Kinder abzugeben, überlebten zwar körperlich – doch emotional nie.
Frances Gage und ihr Ehemann Henry überlebten das Ghetto, das Konzentrationslager und schließlich auch die Nachkriegszeit. Sie bauten sich in den USA ein neues Leben auf, bekamen drei weitere Kinder und waren 63 Jahre lang verheiratet. Doch Erika blieb für immer ein Teil der Erinnerung, der Schmerz, der nicht vergeht.
Auf dem berühmten Foto aus jener Zeit sieht man eine lange Kolonne jüdischer Kinder, begleitet von deutschen Soldaten, auf dem Weg zum Sammelplatz. Ihre kleinen Körper tragen Jacken, einige halten sich an den Händen. Sie wissen nicht, wohin sie gehen. Vielleicht spüren sie die Angst ihrer Mütter, vielleicht hoffen sie noch auf eine Rückkehr.
Heute erinnert ein Denkmal im ehemaligen Ghetto von Łódź an die Gehsperre. In vielen Museen auf der Welt – unter anderem in Yad Vashem und im US Holocaust Memorial Museum – wird dieses Ereignis als Beispiel dafür gezeigt, wie systematisch und grausam selbst die Wehrlosesten unter den Opfern vernichtet wurden.