Die rasanten Kursgewinne des Softwarekonzerns mögen die Aktionäre freuen – für die Deutsche Börse und den gesamten heimischen Kapitalmarkt schaffen sie Probleme.
Frankfurt, Düsseldorf. Es ist eine für Deutschland beispiellose Erfolgsgeschichte. Seit Jahresbeginn ist der Börsenkurs von SAP um 50 Prozent gestiegen. Zusammengerechnet sind alle Aktien des Softwarekonzerns 258,5 Milliarden Euro wert. Damit ist SAP Europas wertvollstes Tech-Unternehmen. Weltweit rangiert der Konzern nach Handelsblatt-Berechnungen auf Rang 32. So weit nach vorn hat es ein deutsches börsennotiertes Unternehmen lange Zeit nicht mehr gebracht.
Doch SAPs Höhenflug stellt die Deutsche Börse vor ein Dilemma, das den gesamten Finanzplatz Deutschland betrifft. Das Unternehmen wächst so schnell, dass es die Grenzen des heimischen Aktienmarkts zu sprengen droht: SAP wird zu groß für Deutschland.
Mit seinem aktuellen Börsenwert von 258,5 Milliarden Euro hat SAP mehr als 15 Prozent des gesamten Börsenwerts aller 40 Dax-Konzerne erreicht. Zum Vergleich: Die Nummer zwei in Deutschland, Siemens, kommt mit seinem Börsenwert von aktuell 148 Milliarden Euro auf ein Dax-Gewicht von 9,8 Prozent.
Bei SAP greift damit die sogenannte Kappungsgrenze: Die soll dafür sorgen, dass insbesondere der Leitindex Dax die Breite und Vielfalt der deutschen Wirtschaft abbildet. Zugleich soll die Regel verhindern, dass einzelne Aktien und Unternehmen zu viel Gewicht in einem Index bekommen und dadurch bei einzelnen Firmennachrichten die Schwankungen unverhältnismäßig groß werden.
Deshalb hat die Börse die Kappungsgrenze eingeführt: Steigt das Gewicht eines Konzerns in einem der Indizes der Dax-Familie über 15 Prozent, wird es bei der regelmäßigen Indexüberprüfung alle drei Monate wieder gesenkt und die Differenz auf die anderen Indexmitglieder verteilt.
Seit Einführung der 15-Prozent-Regel kam es noch nie zu einer Kappung. Doch jetzt ist es so weit. Nach dem kräftigen Kursanstieg in den vergangenen Wochen hat SAP ein Börsengewicht von gut 15,3 Prozent im deutschen Leitindex.
Zum Ende des dritten Quartals am 30. September waren es laut Ausweis der Börse-Tochter Dax Stoxx Ltd. noch 14,8 Prozent. Seitdem legte die SAP-Aktie erneut stärker zu als der Dax. Dementsprechend erhöhte sich das Börsengewicht von SAP in dem Index noch weiter. Umso größer sind aber auch jetzt die negativen Folgen.
Linde verlässt die Frankfurter Börse
Für die betroffenen Unternehmen und Investoren hat die Regelung erhebliche Nachteile. Wenn das Gewicht einer Aktie gesenkt wird, müssen Indexfonds oder ETFs, die einen Börsenindex eins zu eins abbilden, Anteile verkaufen, um die Kappungsgrenze einzuhalten. Dies kann zu Verkaufsdruck führen, den es ohne die Kappungsgrenze gar nicht geben würde, und dieser Druck kann den Aktienkurs ausbremsen.
Für den einst wertvollsten deutschen Konzern Linde waren diese Nachteile so groß, dass er sich im vergangenen Jahr von der deutschen Börse verabschiedete und seither nur noch in New York notiert ist. Hier erhofft sich das Unternehmen bessere Kurschancen für seine Aktien.
Als Reaktion darauf erhöhte die Deutsche Börse im März die Kappungsgrenze für die Gewichtung einzelner Unternehmen von zehn auf 15 Prozent. Diese Reform sollte unter anderem verhindern, dass andere Unternehmen einen ähnlichen Weg gehen wie Linde, sollten sie ähnlich erfolgreich werden – so wie SAP jetzt.
Nur ein gutes halbes Jahr nach Anhebung der Schwelle von zehn auf 15 Prozent schnappt die Zwickmühle schon wieder zu. Deutlich früher als erhofft. Letztlich steht die Börse vor der Entscheidung, entweder die Abwanderung der wertvollsten Unternehmen an ausländische Börsen zu riskieren oder die Finanzszene gegen sich aufzubringen.
Als Linde vor zwei Jahren ankündigte, die Frankfurter Börse und damit den Dax zu verlassen, und dies 2023 verwirklichte, sorgte das für ein Beben in der Finanzbranche. „Das ist bitter, das tut weh“, gab Deutsche-Börse-Vorstandschef Theodor Weimer damals zu.
Jetzt steht die Börse wieder vor dem gleichen Problem. Sobald eine Aktie den Gewichtungsgrenzwert überschreitet, erfolge die Kappung automatisch, erläutert Veronika Kylburg, verantwortlich für globale Indizes bei der Börse-Tochter Dax Stoxx Ltd.
An eine weitere Aufstockung der Kappungsgrenze scheint der Indexanbieter derzeit nicht zu denken. Die Marke von 15 Prozent sei der Wert, der am ehesten mit den europäischen Regeln und den Interessen aller Investorengruppen vereinbar sei, betont Kylburg.
Damit spielt die Expertin auch auf vergleichbare und benachbarte Länder an. Bei ihrer Erhöhung der Kappungsgrenze auf 15 Prozent hatte sich die Deutsche Börse an anderen Auswahlindizes orientiert. Solch eine Schwelle gibt es zum Beispiel im französischen Leitindex CAC 40 und dem italienischen MIB 40. Im schweizerischen Leitindex SMI mit seinen 20 Werten liegt die Grenze bei 20 Prozent.
In großen Indizes, die wesentlich mehr Werte enthalten, darunter der britische FTSE 100 und der amerikanische S&P 500, gibt es keine Begrenzungen mit Blick auf das Gewicht einzelner Aktien. Allerdings stellt sich das Problem auch nicht, weil einzelne Werte ein solch hohes Gewicht bislang nicht erreicht haben.
Kursbremse für SAP
Sollte die Kappungsgrenze bei 15 Prozent bleiben, wäre das eine schlechte Nachricht für SAP. Der Konzern wollte das heikle Thema mit Verweis auf die Stillhaltephase vor Veröffentlichung der Quartalszahlen am Montag nicht kommentieren.
Es gibt allerdings eine Tendenz: In der Vergangenheit hatte SAP nach Informationen des Handelsblatts Interesse an einer Aufhebung der Zehn-Prozent-Grenze geäußert – aktuell dürfte es ähnlich sein.
Für die Zurückhaltung der Börse gibt es gute Gründe: Bereits die vorangegangene Entscheidung, die Kappungsgrenze auf 15 Prozent aufzustocken, war heftig umstritten. Die Börse sicherte sich damals mit einer breit angelegten Umfrage ab. Am Ende stimmten die Marktteilnehmer mit einer Mehrheit von 62 Prozent für die Anhebung.
Doch dieser Wert täuscht über die Differenzen hinweg. Zwar befürworteten Verbände und Vertreter der Privatanleger die neue Grenze mit beinahe 100 Prozent, und auch die Unternehmen zeigten sich mit mehr als 70 Prozent zufrieden mit den Reformen. Bei den Banken und Großinvestoren waren allerdings lediglich 48 Prozent dafür, die Kappungsgrenze im Dax anzuheben.
Vor allem die Fondsbranche sprach sich damals klar gegen die Pläne der Börse aus. Besonders heftig war der Widerstand von aktiv gemanagten Fonds, die versuchen, mit ihren Investmententscheidungen die Indizes zu schlagen. Aufgrund von EU-Regeln dürfen diese Fonds einzelnen Aktien jedoch maximal zehn Prozent Gewicht im Portfolio einräumen, um eine ausreichende Risikostreuung zu gewährleisten. Die aktiven Fondsmanager müssten die wertvollsten Unternehmen in einem Index also automatisch untergewichten, ob sie wollen oder nicht.
Widerstand der Großinvestoren
Union Investment, die Fondsgesellschaft der Genossenschaftsbanken lehnte die Aufstockung deshalb „strikt“ ab und sprach von „Wettbewerbsverzerrung“. An dieser Haltung hat sich nur wenig geändert, auch wenn Benjardin Gärtner, Leiter des Aktienfondsmanagements von Union, eine Abwanderung von in Frankfurt gelisteten Unternehmen an ausländische Börsenplätze vor allem in die USA „bedauern“ würde. Denn diese Kandidaten seien für auf Deutschland oder Europa fokussierte Fonds nicht mehr investierbar.
Aber: „Um eine Abwanderung zu verhindern, wäre eine Stärkung der Aktionärskultur und damit eine Verbreiterung der Investorenbasis der richtige Weg – nicht eine weitere Anhebung der Kappungsgrenze.“
Der Branchenverband BVI lehnte bereits 2023 die Erhöhung der Kappungsgrenze ab und warnt heute, dass sich die negativen Effekte von zu dominanten Einzelunternehmen an den US-Indizes ablesen ließen. In denen würden die großen Tech-Konzerne fast alle Bewegungen bestimmen. „Der S&P 500 zeigt vor allem die Entwicklung von etwa zehn Unternehmen, aber nicht mehr die breiten Marktentwicklungen der übrigen 490 Indexmitglieder“, betont ein BVI-Sprecher.
Ähnlich sieht das die Deka, der Wertpapierdienstleister der Sparkassen. Schon heute stünden die Kappungsgrenzen des Dax „im Widerspruch zu den nachvollziehbaren gesetzlichen Vorgaben des Investmentrechts für Fonds, die auf eine breite Streuung der Aktienanlagen zum Schutz der Anleger abzielt“, meint Joachim Schallmayer, Leiter Anlagestrategie und Kapitalmärkte der Deka. Er warnt, dass eine erneute Aufweichung der Kappungsgrenzen nach oben „Klumpenrisiken im Dax erhöhen und der Benchmarkfunktion mehr schaden als nutzen“ würde.