Die SPD will 95 Prozent der Steuerzahler entlasten. Zur Gegenfinanzierung soll das oberste Prozent mehr zahlen. Im Finanzministerium hat man nachgerechnet, was das konkret bedeuten würde.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP, r.) und Kanzler Olaf Scholz (SPD): Die Sozialdemokraten wollen 95 Prozent der Steuerzahler entlasten, bezahlen soll das das oberste eine Prozent
Berlin. Mit nur einem Satz umreißt die SPD ihren Steuerplan – doch schon der sorgt für Aufregung: „Im Rahmen einer grundlegenden Einkommensteuerreform wollen wir nach der nächsten Bundestagswahl die große Mehrheit der Steuerzahlenden (etwa 95 Prozent) entlasten und dafür die höchsten ein Prozent der Einkommen etwas stärker in die Verantwortung nehmen.“ Der SPD-Vorstand hat beschlossen, mit dieser Forderung in den Wahlkampf für die Bundestagswahl 2025 zu ziehen.
Seit die Sozialdemokraten diesen Steuerplan öffentlich geäußert haben, wird hitzig debattiert, was das konkret für die Steuerzahler bedeuten würde. Die SPD will dazu keine Details preisgeben – weder für die 95 Prozent, die entlastet werden sollen, noch für das eine Prozent mit den höchsten Einkommen. Im Ministerium von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) haben Steuerexperten nachgerechnet, wie eine solche Steuerreform konkret aussehen könnte.
Das obere Prozent: Zu den oberen ein Prozent zählen nach den Zahlen des Finanzministeriums aktuell Steuerpflichtige mit Einkünften von mehr als 280.000 Euro. Das können sowohl Singles als auch Ehepaare sein, die in der Statistik als ein Steuerpflichtiger zählen. Betroffen sind auch Einzelunternehmer sowie kleine und mittelständische Betriebe. Diese sind überwiegend Personengesellschaften und müssen als solche Einkommensteuer zahlen.
Bei vielen in dieser Gruppe greift der sogenannte Reichensteuersatz von 45 Prozent. Aktuell wird er ab einem Einkommen von 277.826 Euro fällig, bei zusammenveranlagten Ehepartner ist es doppelt so viel. Zudem zahlen die Spitzenverdiener auch weiterhin Solidaritätszuschlag, da dieser nur für 90 Prozent der Steuerzahler abgeschafft wurde. Das Finanzministerium hat berechnet, dass das oberste eine Prozent aktuell knapp 25 Prozent des gesamten Lohn- und Einkommensteueraufkommens und 60 Prozent des Solidaritätszuschlags trägt.
Hebt man den Reichensteuersatz um einen Prozentpunkt an, führt das zu Steuermehreinnahmen von rund einer Milliarde Euro jährlich.
Steuerentlastung soll Konjunktur ankurbeln
Die unteren 95 Prozent: Laut Finanzministerium handelt es sich hierbei um rund 46 Millionen Personen. In ihrem Papier gibt die SPD nicht an, wie stark sie diese Gruppe entlasten will. Offenbar denken die Sozialdemokraten aber an eine spürbare Steuersenkung, denn sie erhoffen sich positive Impulse auf die Konjunktur. „Diese Reform wird den Menschen mehr finanziellen Spielraum geben und die Kaufkraft stärken“, heißt es im Strategiepapier. „Damit kurbeln wir die Wirtschaft von unten und aus der Mitte der Gesellschaft an.“
Das Finanzministerium unterstellt in seinen Rechnungen eine Entlastung von durchschnittlich 240 Euro im Jahr, also 20 Euro pro Monat. Dazu könnte beispielsweise der Grundfreibetrag um gut 1200 Euro angehoben werden. Bis zu dieser Grenze fallen keine Steuern an. So würden auch Bezieher von niedrigeren Einkommen profitieren.
Eine Anhebung des Grundfreibetrags um 100 Euro führt laut Finanzministerium zu Mindereinnahmen von 0,9 Milliarden Euro jährlich. Somit würde eine Anhebung um 1200 Euro den Fiskus knapp elf Milliarden Euro kosten.
Die Gegenfinanzierung: Im Strategiepapier der SPD klingt es, als wollten die Sozialdemokraten die Entlastung der 95 Prozent durch die Belastung des obersten Prozents gegenfinanzieren. Dort heißt es: „Die Steuerpflichtigen mit den allerhöchsten Einkommen müssen dafür etwas mehr Verantwortung übernehmen, um eine Steuersenkung für den Großteil der Menschen zu finanzieren.“
Sollen 95 Prozent der Steuerpflichtigen also um insgesamt elf Milliarden Euro entlastet werden, müsste nach den Zahlen des Finanzministeriums der Reichensteuersatz um elf Prozentpunkte angehoben werden, um das Geld beim obersten Prozent wieder reinzuholen. Er muss demnach von derzeit 45 auf 56 Prozent steigen. Zusammen mit dem Solidaritätszuschlag würde die Gesamtbelastung bei 59 Prozent liegen.
Lindner nennt SPD-Pläne „zutiefst ungerecht“
Im Bundesfinanzministerium werden Steuervorschläge, die politisch diskutiert werden, immer mal wieder durchgerechnet. So gab es auch Berechnungen zu Plänen der CDU. Allerdings sind dafür meistens Annahmen notwendig, weil die politischen Vorschläge nicht konkret genug ausgestaltet sind. Zentrale Annahme bei den SPD-Plänen ist, dass die Reform aufkommensneutral ist, also die Entlastung der 95 Prozent durch die Belastung des obersten Prozents finanziert wird.
Unter dieser Voraussetzung kommen auch Ökonomen zu ähnlichen Ergebnissen. Martin Beznoska, Steuerexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) sagte: „Wollte man eine echte Reform mit einem Entlastungsvolumen von zum Beispiel 30 Milliarden Euro von dem oberen Prozent der Einkommensteuerzahler gegenfinanzieren, so müsste der Spitzensteuersatz in Bereiche von 52 Prozent und der Reichensteuersatz auf 55 Prozent steigen.“
59 Prozent von Spitzenkräften und Mittelstand zu verlangen, das geht voll zulasten von Wachstum und Arbeitsplätzen im Mittelstand.
Bundesfinanzminister und FDP-Chef Christian Lindner kritisiert die Vorschläge des Koalitionspartners. „Durch die Steuerideen der SPD würde unser Land mehr verlieren als gewinnen“, sagt Lindner. „59 Prozent von Spitzenkräften und Mittelstand zu verlangen, das geht voll zulasten von Wachstum und Arbeitsplätzen im Mittelstand. Es ist in einer freien Gesellschaft auch zutiefst ungerecht, wenn der Staat von der Leistung der Bürger mehr verlangt, als ihnen selbst verbleibt.“
SPD spricht von „rein theoretischem Rechenkonstrukt“
Dass die SPD tatsächlich zu einer solch drastischen Erhöhung des Reichensteuersatzes bereit wäre, ist allerdings unwahrscheinlich. Ein Problem dürfte aus Sicht der Sozialdemokraten auch sein, dass man nicht nur reiche Spitzenverdiener trifft, sondern auch mittelständische Betriebe und Familienunternehmen, die häufig Personengesellschaften sind. Laut Positionspapier will die SPD den Standort stärken. „Wir wollen, dass Unternehmen in Deutschland investieren“, heißt es darin.
Wie die SPD vorgehe, sei noch „genaue Feinarbeit“, sagte der neue SPD-Generalsekretär Matthias Miersch. Details nannte er nicht, im Regierungsprogramm werde es eine klare Berechnungsgrundlage geben.
Eine theoretische Möglichkeit wäre, die Entlastung für die 95 Prozent der Steuerzahler zu verringern. Denkbar wäre auch, nicht nur das oberste Prozent, sondern die oberen drei oder fünf Prozent zu belasten. Alternativ könnte es weitere Gegenfinanzierungen geben, etwa über andere Steuererhöhungen oder über eine höhere Verschuldung. In der SPD gibt es Forderungen, die Erbschaftsteuer und die Schuldenbremse zu reformieren. Das könnte zu zusätzlichen Einnahmen führen.
Der finanzpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Michael Schrodi, betonte: „Es geht um eine Grundsatzentscheidung: Wir wollen 95 Prozent der Einkommensteuerzahler entlasten und dafür die höchsten Einkommen stärker belasten.“ Zur Ausgestaltung gebe es „einen breiteren Spielraum“, sagte der SPD-Finanzpolitiker. „Offensichtlich hat das Bundesfinanzministerium aber eine eindimensionale Berechnung vorgelegt und damit ein rein theoretisches Rechenkonstrukt.“